Das Erwachen
einen haben sollte – die du als erfüllenswert einstufst. Aber auch nur deswegen, damit Außenstehende deine Großzügigkeit bewundern können. Ich schlage dir vor: Übernimm doch auch einfach meine Pflichten.«
Die kurzen Phasen zwischendurch, in denen sie dachte, ihre Ehe könnte sich doch noch zum Besseren ändern, wurden seltener, bis sie schließlich ganz aufhörten. Wie bei einer Rechnung hatte sie einen Strich gezogen und zusammengezählt. Übrig blieb nichts. Nichts, außer der Erinnerung. Und an manches möchte sie sich einfach nicht mehr erinnern. Aber so einfach war das nicht. Ständig hatte Sarah Bilder der Vergangenheit im Kopf, die forderten, dass sie sich mit ihnen beschäftigte. Und manchmal auch Bilder, nach denen sie sich sehnte. Von denen sie hoffte, sie würden sich irgendwann einmal wiederholen. Dann sah sie sich barfuß über eine Wiese laufen, Henry hinter ihr her. Natürlich konnte und wollte sie ihm nicht entkommen. Er fing sie ein, hielt sie fest und zog sie zu Boden. Und sie vergaßen alles um sich herum.
Um so brutaler meldete sich die Wirklichkeit, wenn sie einmal diesen Bildern nachgegangen war. So auch heute, als sie sich an eine Bootsfahrt auf der Saar erinnerte, die bis Mettlach ging. Henry hatte einfach am Ufer angelegt, den Picknickkorb und die Decke geschnappt und war ausgestiegen. Als sie zurückfuhren, viele Stunden später, war der Picknickkorb immer noch fast unberührt. Außer Mineralwasser fehlte ihm nichts. Aber in ihrem Kopf war eine Leichtigkeit ohnegleichen. Und eine Zufriedenheit, die fast schon arrogant wirkte. Unter und neben und in ihr unzählige Schmetterlinge, die ihren Körper mit den zarten Flügeln küssten und sie nach Hause flogen.
Sarah wurde aus ihren Träumen gerissen. »Ich bringe heute Abend zwei Geschäftsfreunde mit nach Hause«, meldete sich Henry am Telefon. »Sage bitte Mary, sie solle etwas Kaltes vorbereiten. Wir haben noch viel zu besprechen.«
Allein die Stimme von Henry, früher ein Garant für Gänsehaut und mehr, ließ in ihr eine Woge aus Widerwillen und Abwehr hochschwappen. Er rief, sie hatte zu folgen. Er befahl, und schon tanzte sie an. Ein achtundzwanzigjähriges Dummerchen, das sich alles gefallen ließ, ohne Gegenwehr, ohne aufzumucken. Oder fast alles. Und dann die Selbstverständlichkeit, mit der Henry erwartete, dass all seine Anweisungen zu erfüllen waren. Schließlich ginge es, wie er nicht müde wurde zu betonen, ums Geschäft und um ihre Existenz. Da hätten persönliche Dinge außen vor zu stehen. Jeder müsse seinen Teil dazu beitragen.
Sarah gab die Anweisung an Mary weiter. Und als Henry gegen Abend mit dem Besuch in die Diele trat, war Sarah bereits ausgehfertig, schlang einen Schal um den Hals und zog noch eine Jacke über.
»Herr Kalmes und Herr Vontarra«, stellte Henry die Gäste vor.
Zögernd, als sei alles, was mit ihrem Mann zu tun hatte, mit Vorsicht anzufassen, gab sie jedem die Hand. »Sehr erfreut, meine Herren«, rang sie sich ab und lächelte hölzern.
»Willst du uns denn nicht Gesellschaft leisten?«, fragte Henry nach einem Blick auf ihre Kleidung.
»Ich habe noch eine Verabredung.«
»Um diese Uhrzeit?«
»Um diese Uhrzeit.«
»Schatz, überlege dir, was …«
»Das habe ich. Noch einen angenehmen Abend, meine Herren. Mein Mann erklärt Ihnen auch gerne, wo ich dieses schöne blaue Auge her habe.«
Sie war tot. Sarah war gerade von Henrys Blick getötet worden. Und es tat ihr gut, noch diesen Blick aufgeschnappt zu haben. Sie wusste, dass sie Henry bezüglich der Schlagfertigkeit mindestens ebenbürtig war. Und gemein konnte sie auch werden. Aber einen solchen Blick würde sie nie zustande bringen. Mit hoch aufgerichtetem Kopf stolzierte sie hinaus. Ein kleiner Triumphmarsch. Und ihre Hüften schwangen mehr zur Seite als sonst.
Sarah fuhr oberhalb des Wasserfalls in ein italienisches Restaurant, mit einem prächtigen Blick auf die Saar und das gegenüberliegende Ufer, in das man auch als Frau allein gehen konnte. Ihr war eigentlich nicht nach Unterhaltung zu Mute, sie rechnete auch nicht damit, Bekannte zu treffen, und wurde zu ihrer Überraschung vom Ehepaar Dornwald so überschwänglich begrüßt, als hätten sie auf Sarah gewartet. Sarah schätzte die beiden sehr, zu Henrys Leidwesen.
Sicherlich waren Sarah die Dornwalds deshalb so sympathisch, weil sie keine Geschäfte mit ihrem Mann machten, nicht Mitglied im SUV waren, sondern einen ganz normalen Beruf ausübten. Sven Dornwald war
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