Das Erwachen
klarer zu sehen. Hätte sie Henry nicht durch ihren Tod einen Gefallen getan? Ihm ihr Vermögen überlassen? Auf elegante Art und Weise ihrem Mann ein Hemmnis aus dem Weg geräumt?
Sarah lehnte sich zurück und schloss die Augen. Schlimme Gedanken schwirrten durch ihren Kopf. Ob Henry sie, wenn er dazugekommen wäre, vom Sprung abgehalten hätte? Oder ihr noch zugeredet, sie bestärkt und ihr einen Stoß versetzt hätte?
Sie wehrte sich vor der Erkenntnis, aber im Augenblick traute sie ihm das Letztere zu. Vielleicht, weil ich ähnlich reagieren würde, sagte sie sich.
Sie blätterte weiter in dem Album. Nun war sie nur noch mit ihrem Vater zu sehen. So auch auf dem Abschlussball der Tanzschule, als sie sechzehn war. Oder wenn ihr Vater neue Häuser an die stolzen Besitzer übergab.
Und mit sechzehn, erinnerte sie sich, hatte ihr Vater sie auch überall mit hingenommen, wo ansonsten ihre Mutter dabei gewesen wäre. Zu Empfängen, ins Theater, zu einem Abendessen mit Freunden.
Lange starrte sie auf das Bild ihres Vaters, das ihn an seinem sechzigsten Geburtstag zeigte. Nun erst verstand sie, wie einsam er gewesen sein musste. Weil sie selbst einsam war. Aber zu ihrem Vater gab es einen großen Unterschied: Bei ihm war es eine von ihm selbst gewählte Einsamkeit, da der liebende Partner verstorben war. Eine Einsamkeit, die er nicht beenden wollte.
Das erste Foto mit Henry wurde auf ihrem achtzehnten Geburtstag gemacht. Henry, groß, schlank, übermütig, und um ihn herum vier Mädchen, darunter auch sie selbst, die ihn anhimmelten. Und schon damals, Henry war zwei Jahre älter als sie, genoss er es, im Mittelpunkt zu stehen.
Sarah als Studentin und eine Freundin, mit der sie die kleine Wohnung teilte. Und dann ihr fünfundzwanzigster Geburtstag, an dem sie das Examen machte. Ihr Vater hatte sie groß ausgeführt und dazu eine Luxuslimousine mit einem Fahrer gemietet. Sie beide ganz allein. Und er war ungemein stolz auf sie, dass seine kleine Fee, wie er sie nannte, ein so schwieriges Studium mit so viel Mathematik erfolgreich abgeschlossen hatte.
»Noch zwei Jahre bei einem Freund von mir in die Lehre«, hatte er gescherzt, »und dann kannst du meinen Betrieb übernehmen.«
»Aber ich will deinen Betrieb nicht übernehmen. Ich habe es nicht mit Bauen und mit Häusern.«
»Was möchtest du denn?«
»Auf eine Bank will ich. Oder zu einer großen Versicherung.«
»Meine liebe Fee, das sind doch keine anständigen Berufe.«
»Für eine Frau?«
»Für dich. Ich gebe dir einen schönen Grundstock, meine Firma, baue du ihn weiter aus.«
Sarah verstaute das Album wieder in ihrem Schreibtisch und machte es sich bequem. Warum kann ich die Zeit nicht zurückdrehen, überlegte sie und wünschte, sie wäre wieder ein Kind. Könnte die Geborgenheit des Elternhauses spüren. Sähe die ahnungsvollen Blicke ihrer Mutter, als sie ihr von ihrem ersten Freund berichtete. Und das noch ahnungsvollere Gesicht ihres Vaters, der sie diskret auf die Seite genommen und gefragt hatte: »Meine Fee, weißt du denn schon, wie das so mit Jungen und Mädchen ist?«
»Ja, Papi. Die einen stehen beim Pinkeln und wir setzen uns auf die Toilette.«
»Mache dich nicht lustig über mich.«
»Papi, so etwas lernt man heute in der Schule.«
»In der Schule?«, hatte er erstaunt gefragt. Und dann wieder: »In der Schule?« Und sich Hilfe suchend an seine Frau gewandt, die bereits von der Krankheit gezeichnet war. »Hast du das gehört: In der Schule.«
»Immer noch besser, als auf der Straße«, hatte sie geantwortet. »Und einige Male habe ich auch mit deiner Tochter darüber gesprochen. Sie weiß seit langem, wie das so zwischen Jungen und Mädchen ist. Oder wolltest du sie mit Hilfe der Bienen aufklären?«
»Aber um sieben bist du zu Hause.«
Er hatte sich bis auf neun Uhr am Abend erweichen lassen.
»Ja, Papi,« sprach Sarah leise. »Du hast bei mir auch einen sehr großen Ozean hinterlassen. Leider gibt es auch dafür kein Schiff. Und wenn es ein Schiff gäbe – ich verstehe immer noch nicht, warum du das getan hast. Warum du mich allein gelassen hast. Einfach so.«
Zuerst suchte sie am kommenden Morgen einen Frauenarzt auf. Normalerweise fuhr sie dazu nach Trier, aber das war ihr heute zu umständlich. Sarah beklagte sich, dass seit drei Wochen ihre Periode überfällig sei.
»Das kommt bei Frauen ihres Alters häufig vor«, scherzte der Arzt. »Und wenige Monate später sieht man auch schon etwas.«
»Ich will nichts sehen.
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