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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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hingeht und für Ordnung sorgt, sondern alles muss blitzen, blinken und wie abgezirkelt an seinem Platz stehen. Die Vase mitten auf dem Deckchen und das Deckchen mitten auf dem Tisch. Ein Stuhl genauso wie der andere, alle gleich weit voneinander und vom Tisch entfernt. Einmal..« Sarah begann zu lachen, »… einmal haben wir einen neuen Teppich bekommen. Henry hat doch tatsächlich seinem Architekten gesagt, er möge bitte den Teppich maßstabsgerecht in den Plan des Wohnzimmers einzeichnen. Und anschließend, als der Teppich lag, hat er nachgemessen und sich beschwert, weil er die angegebenen Maße um wenige Zentimeter verfehlt hat. Und er hat auch tatsächlich Geld zurückbekommen.«
    »Unsichere, innerlich zerrissene Menschen brauchen oft als Gerüst und als Halt diese übertriebene Ordnung. Schließt er immer alle Türen und Fenster?«
    »Ja«, antwortete Sarah.
    »Und überprüft er es später noch einmal?« »Woher kannst du das wissen?«
    Aber Carmen reagierte nicht auf Sarahs Frage. »Ist er mit seiner Kleidung auch so penibel?«
    »Korrekt und steif und zwei frische Hemden am Tag. Aber es steht ihm. Henry kann alles tragen. Und zweimal duschen.«
    »Und wie viele Unterhosen?«
    »Vielleicht … zwei die Woche?«
    Die Frauen lachten.
    »Seine Eltern haben sich umgebracht, hast du erzählt. Und wenn Henry diese Eigenart von ihnen hat, dann kann ich mir vorstellen, dass sie sich äußerst … wie soll ich sagen … äußerst fotogen erschossen haben. Um ja keinen Dreck zu machen.«
    »Woher kannst du das wissen?«, fragte Sarah erstaunt.
    »Nun, ich muss mich zwangsläufig mit gewissen Phänomenen beschäftigen. Und dieses nennt man gefalteter Suizid. Weil die Protagonisten zuerst ihre Hose falten und auf einem Bügel aufhängen, bevor sie sich erschießen. Oder ihre Kleidung geordnet über das Geländer legen, und erst dann ins Wasser oder sonst wohin springen.«
    »Und wie nennt man diejenigen, die all ihre Papiere wegwerfen, die Handtasche entleeren und erst dann springen wollen?«, fragte Sarah ernst und ruhig. Sie schaute nach oben, als sei dort die Brücke. Kam es ihr etwa so vor, als ob sie gesprungen wäre? Oder nahm sie Maß?
    Carmen beobachtete sie von der Seite. »Weiß ich nicht. Kannst du jetzt darüber reden?«
    Sarah nickte.
    »Dann frage ich dich: Warum hast du alles weggeworfen?«
    Sarah wandte sich ab und wollte nicht, dass Carmen ihr Gesicht sah. »Warum, warum?«, wiederholte sie. »So genau kann ich mich nicht erinnern. Man tut in solchen Situationen vieles aus Intuition. Überhaupt sehe ich alles sehr verschwommen und weit in der Vergangenheit.« Nach wenigen Augenblicken gab sie zu: »Ich glaube, ich habe mich geschämt. Niemand sollte wissen, wer ich bin. Ja, ich habe mich geschämt.«
    Sie gingen ins Haus, Carmen bereitete einen Tee, weil sie Kaffee nicht so gut vertrage. Ihr Magen.
    »Was meinst du mit äußerst fotogen?«, wollte Carmen wissen.
    »Wie bitte?«
    »Henrys Eltern, der Selbstmord.«
    »Sie hatten sich auf eine Plastikfolie gelegt, wegen des Blutes«, antwortete Sarah.
    »Aber einer von beiden war doch wohl ein Mörder. Henrys Vater, der Jäger, nehme ich an.«
    »Ja. Zuerst erschoss er seine Frau, dann sich selbst.«
    »Hat Henry oft darüber gesprochen?«
    »Nein, nie. Das Thema war absolut tabu.«
    »Und diesen Ordnungstick hat er geerbt.«
    »Davon gehe ich aus. In seiner Jugend, so hat er mal erzählt, musste er immer stocksteif zu Tisch sitzen und durfte sich nicht rühren, bis er alles aufgegessen hatte und alle mit dem Essen fertig waren. Hat er auch nur einmal gezappelt, musste er sich eine halbe Stunde in die Ecke stellen und Gedichte aufsagen.«
    »Das hat es vor zwanzig Jahren noch gegeben?«, wunderte sich Carmen und fügte hinzu: »Dann wird mir einiges klar.«
    Sie stand auf, trat zu Sarah und schaute sich das blaue Auge an. Inzwischen schimmerte es in mehreren Farben. Nahe der Nasenwurzel wurde es bereits gelb.
    »Wie die Katzen sind wir die ganze Zeit um den heißen Brei geschlichen, Sarah. Wolltest du nicht zur Polizei gehen und deinen Mann anzeigen, wegen Vergewaltigung?« Sie drehte Sarahs Kopf zum Licht, um das Auge besser betrachten zu können.
    »Ja.«
    »Und wann wirst du gehen?«
    »Überhaupt nicht.«
    »Bist du denn …« Carmen ließ sie los und trat einen Schritt zurück. »Bist du denn noch ganz klar im Kopf? Henry prügelt dich, vergewaltigt dich und du gehst nicht zur Polizei. Sarah, das duldsame Wesen. Meinst du nicht auch, dass er jetzt

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