Das Erwachen
wenn sie sich mit ihm hat in der Öffentlichkeit blicken lassen? Besonders, wenn der Bischof auch noch anwesend war? Läuft es auf ein solches Arrangement hinaus, mein Schatz?«
Sarah spürte, dass Henry eine scharfe Antwort geben wollte, die er sich noch im letzten Augenblick verkniff. Möglicherweise aus dem Grunde, weil er engen geschäftlichen Kontakt zu der von Sarah angesprochenen Person hatte, der wenig später zu einigen Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Betrug, Bestechlichkeit und vieles mehr hatte man ihm vorgeworfen. Erstaunlich ruhig antwortete Henry: »Du kannst es dir ja noch bis morgen überlegen. Aber ich würde mich freuen, wenn du zusagen würdest. Und wenn wir den Abend irgendwie elegant über die Runde bekommen könnten. Die Presse macht vor unserem Essen ein Foto. Vielleicht machst du dich auch etwas hübsch. Ein dezentes Abendkleid. Das Schwarze.«
Henry ging hinaus, und Sarah kannte nun den wahren Grund. Die Presse. Vor ihr, und damit der gesamten Leserschaft, wollte Henry eine intakte Idylle konstruieren. Einmal, was die Unternehmer betraf, die er eingeladen hatte. Keiner konnte den anderen ausstehen, in der Öffentlichkeit jedoch waren sie die besten Freunde. Aber es würde auch niemand absagen, allein schon aus dem Grund, man könne etwas verpassen und es würde signalisiert, man gehöre nicht zum elitären Kreis des Verbandes.
Und zum anderen ihre Ehen, die nach außen unbedingt als intakt zu erscheinen hatten. Erfolgreiche Unternehmer haben immer eine intakte Ehe. Und eine fotogene Frau an ihrer Seite.
Sarah hatte schon lange im Bett gelegen, konnte nicht einschlafen, als sie wieder aufstand und zu ihrem Schreibtisch ging. Sie nahm ein Fotoalbum aus der Schublade und begann zu blättern. »Es kann doch nicht nur alles Mist in meinem Leben gewesen sein«, murmelte sie vor sich hin und betrachtete Bilder aus der eigenen Kinderzeit. Sie saß zwischen den Eltern. Ihr Vater war wesentlich älter als ihre Mutter gewesen, und trotzdem starb sie lange vor ihm. Dabei sah er schon zu ihrer Kindheit aus wie ein alter Mann mit seiner Halbglatze und den grauen Haaren. Nur in seinen Augen war etwas Jungenhaftes, etwas Spitzbübisches und sehr viel Wärme, wenn er seine Tochter anschaute.
Trotz der unterschiedlichen Konfessionen einigten sich die Eltern darauf, Sarah katholisch erziehen zu lassen. Weil sie sicherlich dadurch die wenigsten Nachteile zu erwarten habe.
Das sagte einmal ihr Vater, der viele seiner Verwandten im KZ verloren hatte.
Sarah betrachtete Bilder aus der Schulzeit und von Geburtstagen, von Ausflügen mit ihren Eltern und vom Urlaub. Sie hatte eine schöne Kindheit, eine behütete Kindheit und das große Glück, dass ihre Eltern sich nicht gestritten haben. Zumindest nicht in ihrer Anwesenheit.
Als sie vierzehn war, starb ihre Mutter. Auf einem Foto sah sie sich in einem dunklen Kleid mit Blumen in der Hand vor dem Grab stehen. Und daneben ihr Vater, der aussah, als wäre er gleichfalls gestorben.
»Weißt du, Sarah, woran man erkennt, dass man einen Menschen geliebt hat?« Das hatte er sie einige Monate nach der Beerdigung gefragt. »Man erkennt es an der Trauer. Nur große Liebe bringt große Trauer.«
»Und wie ist deine Trauer, Vati?«
»Wenn sie ein Ozean wäre, es gäbe kein Schiff, das ihn durchqueren könnte.« Dabei hatte er gelächelt.
»Warum lachst du, wenn deine Trauer doch so groß ist? Müsstest du da nicht weinen?«
»Ja, mein Mädchen, im Grunde hast du Recht. Aber ich bin auch stolz darauf, so viel für deine Mutter zu empfinden. Sie war die beste Frau auf dieser Welt.«
»Und die beste Mami.«
»Trauerst du auch um sie?«
Sarah hatte genickt. »Mein Schiff könnte auch nicht den Ozean durchqueren.« Sie war ihrem Vater um den Hals gefallen und beide hatten geweint.
Warum kann meine Ehe nicht halb so gut sein wie die meiner Eltern, fragte sich Sarah. Die Hälfte würde mir schon genügen. Und sie fragte sich unwillkürlich, ob sie um Henry trauern würde. Bis vor zwei Jahren hätte sie es noch getan. Vielleicht auch noch im vergangenen Jahr. Aber jetzt wäre es für sie eine Erlösung, wenn es ihn nicht mehr gäbe. Ohne ihn käme die große Freiheit. Die Zeit des Erwachens. Die Zeit der Unbeschwertheit.
Für einen Augenblick dachte sie daran, welche Möglichkeiten es gab, das Schicksal selbst in die Hände zu nehmen. Auf sich bezogen hatte sie es ja tun wollen und können. Als zöge jemand einen Vorhang zur Seite, glaubte Sarah plötzlich
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