Das Erwachen
Hand zurück.
»Mutest du dir auch nicht zu viel zu?«
»Nein. Ich lasse mich nicht im Geschäft blicken und habe den ganzen Tag für mich allein. Das kann ich verkraften.«
»Warst du heute in der Sauna?«
»Was geht dich das an?«, antwortete sie leicht ungehalten.
»Nun, ich mache mir Sorgen, die Belastung könnte zu groß sein. Ich meine die Hitze.«
»Seit Jahren gehe ich in die Sauna. Ich habe noch nie etwas gemerkt.«
Henry aß eine Weile und beobachtete sie. Begegneten sich ihre Blicke, dann lächelte er. Es sah etwas verkrampft und hilflos aus, aber immerhin lächelte er.
»Vielleicht wird ja jetzt doch noch alles anders«, meinte er leichthin. »Und alles gut«, fügte er hoffnungsvoll hinzu. Seine Augen waren eine eindringliche Aufforderung, ja zu sagen, ihn zu bestätigen.
Sarah tat ihm diesen Gefallen nicht und gewann den Eindruck, dass Henry sich doch Gedanken gemacht hatte über ihre innere Verfassung und über ihre Zerrissenheit. Der Vorfall mit der Brücke schien ihm zuzusetzen.
»Schatz, ich habe heute Abend noch eine Sitzung des SUV. Bleibst du zu Hause?«
»Wo sollte ich hingehen?«
»Vielleicht zum Italiener. Versprich mir, dass du auf dich acht gibst. Und wenn was sein sollte, rufe mich bitte an. Über Handy. Du störst mich nicht.«
Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und Sarah war zu verblüfft, um den Kopf wegzudrehen.
An diesem Abend ging Sarah früh zu Bett. Und sie trank vorher keinen Alkohol. Sie kuschelte sich in die Bettdecke und fühlte wohlig die Wärme. Dass Henry sie geküsst hatte, ging ihr nicht aus dem Sinn. Welchen Grund hatte er? Oder tat er es aus Berechnung?
Sie wischte sich über die Wange, als sei sie schmutzig. Jede körperliche Nähe mit Henry war ihr verhasst. Sie ekelte sich davor. Spätestens seit der Nacht, als er sie vergewaltigt hatte, ekelte sie sich davor.
Unwillkürlich dachte sie an einen besonderen Kuss von Henry, den wohl schönsten, den sie von ihm erhalten hatte. Sarah wollte andere Erinnerungen aus ihrem Kopf verbannen, nur noch an schlimme Dinge denken, aber immer wieder küsste Henry sie. Und zwar genau auf die Stelle, wie vorhin. Mit dem Gedanken an diesen einen besonderen Kuss schlief sie ein.
»Sie dürfen die Braut küssen«, sagte er Priester und lächelte sie an. Henry beugte sich zu Sarah, sie schlug den Schleier zurück und Henry küsste sie auf die Wange. Nicht auf den Mund, wie sie erwartet hatte, sondern auf die Wange. Und zwar mit so viel Zärtlichkeit und so andächtig, dass ihr Körper von einem wohligen Schauer eingehüllt wurde. Sarah erschrak, weil sie dachte, man könnte ihr dies ansehen.
Sie zog den Schleier wieder herunter, schaute auf den schlichten Goldring, den Henry ihr vor wenigen Minuten an den Finger gesteckt hatte, und dann gingen sie beide Arm in Arm langsam durch den Mittelgang aus der Kirche, begleitet von den Trauzeugen. Zwei Mädchen trugen Sarahs Schleppe aus feinem Chiffon.
Viele bekannte Gesichter sah sie links und rechts in den Bankreihen, aber sie hatte nur Augen für eines- das ihres Vaters. Draußen vor der Kirche nahm er sie in die Arme, drückte seine Tochter an sich, als wolle er sie nie mehr loslassen. Tränen der Freude liefen ihm über die Wangen.
Sarah war seltsam berührt von dieser Geste, denn so kannte sie ihren Vater nicht. Freundlich und nachgiebig, immer gut gelaunt. Aber tiefere Gefühle hatte er bisher nur sehr selten gezeigt, in der Öffentlichkeit jedoch nie. Als dürfe das ein Mann nicht. Nur ein einziges Mal hatte sie ihn weinen sehen, als ihre Mutter verstorben war.
»Mein Mädchen, meine Fee, ich wünsche dir alles Glück auf dieser Welt. Und du bekommst es auch, denn du hast es verdient.«
Die Hochzeit fand außerhalb auf einem Reiterhof statt. Der Junihimmel meinte es gut, kein Wölkchen war zu sehen, die Tische standen im Freien.
Sarah war so voller Übermut, Überschwang und Glück, dass sie vom eigentlichen Hochzeitstag nicht viel mitbekam. Abends wusste sie überhaupt nicht, wer alles anwesend gewesen war und ob sie auch alle gesehen und begrüßt und sich für die Geschenke bedankt hatte.
Sie hatte nur Augen für Henry. Inzwischen kannte sie jedes feine Härchen in seinem Gesicht, die sich deutlich abzeichneten, wenn Sarah es gegen die Sonne betrachtete.
Am Abend wurde die Hochzeitsgesellschaft immer ausgelassener. Zuerst wurde Sarahs Schuh versteigert, und die fast fünfhundert Euro sollten für die Jugendarbeit der Stadt verwendet werden.
Nach altem Brauch
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