Das Erwachen
hatte Psychologen bemüht, um herauszufinden, weshalb ihr Vater sich so verhalten hatte. Jedes Mal bekam sie eine andere Antwort. Aber alle waren sich in einem Punkt einig: Der Anlass musste sehr tief sitzen und seinen Ursprung lange vor der Hochzeit gehabt haben. Und sie waren sich einig, dass ihr Vater sie nicht bestrafen, sondern auf etwas hinweisen oder vor etwas warnen wollte. Ohne ihre Hochzeit, meinten sie, hätte er sich womöglich schon früher umgebracht. Noch einmal wollte er seine Tochter glücklich sehen.
Sarah stand auf, ging ins Bad und ließ Wasser in die Wanne laufen. Sie legte sich in das warme Wasser und war traurig. Ihr Vater war vor mehr als drei Jahren gegangen, und Henry hatte sich ihr mehr und mehr entfremdet. Sie kam sich verloren vor.
Jetzt war sie genauso allein wie ihr Vater damals. Ob das mit ein Grund war, warum sie die Brücke …
Sarah wischte den Gedanken beiseite.
Was ihr seit Jahren große Schwierigkeiten bereitete, das war zu ergründen, warum ihr Vater sich in ihrer Hochzeitsnacht umgebracht hatte. Wen wollte er damit bestrafen? Sich selbst? Seine Tochter? Henry? Aber warum ausgerechnet Henry, von dem er als Schwiegersohn so viel gehalten hatte? Viele Möglichkeiten gab es also nicht. Es blieben demnach nur zwei übrig. Und dass es eine Art von Bestrafung sein sollte, davon war Sarah entgegen den Aussagen der Psychologen überzeugt. Ohne einen ganz wichtigen Grund, den wichtigsten, den er sich vorstellen konnte, hätte ihr Vater so etwas nicht getan. Dafür kannte sie ihn zu gut.
Während das Wasser seine Wärme verlor, lief Sarahs Vergangenheit an ihrem inneren Auge vorüber. Sie zog Bilanz. Sie fiel nicht gut aus. Abgesehen von ihrer Kindheit und Jugend und der ersten Zeit mit Henry gab es nicht viel, was sie vorweisen konnte. Zu tief war der Einschnitt durch den Tod ihrer Mutter, noch tiefer der durch den ihres Vaters, und nun der Scherbenhaufen ihrer Ehe.
All dies waren für sie Gründe genug – jeder einzelne an sich hätte schon genügt – um zur Brücke zu gehen. Und wenn sie ehrlich war, dann hatte sich tief in ihr eine Art Todessehnsucht eingenistet. Sie würde die beiden Menschen, die sie am meisten geliebt hatte, auf der anderen Seite wiedertreffen und zugleich den unerträglichen Zustand mit Henry beenden. Falls sie es schaffte, ihren Vorsatz in die Tat umzusetzen.
Aber straft Gott nicht all diejenigen, die sich umbringen, mit Verachtung und Schande, erinnerte sie sich an ihre Religion? Und derjenige, der sich selbst verachtete, wie alle Selbstmörder, durfte keine Gnade und Vergebung für seine Todsünde erwarten. Mit ewigem Fegefeuer würde er bestraft werden.
»Was stört mich die Religion«, seufzte Sarah und tauchte unter das Wasser. Es rauschte in ihren Ohren, deutlich spürte sie ihren Pulsschlag. Jetzt liegen bleiben, einfach unter Wasser liegen bleiben, die Luft so lange anhalten, wie es eben ging, dann den Mund aufmachen …
Prustend tauchte sie wider auf. »Verdammt, was ist mit dir los«, beschimpfte sie sich. »Was machst du denn für seltsame Spielchen. Bist wohl doch nicht richtig im Kopf!«
Sie stieg aus der Wanne und zitterte. Während das Wasser ablief, rubbelte sie sich warm, zog einen Bademantel an, schlang ein Handtuch um die Haare und ging ins Wohnzimmer. Ohne etwas wahrzunehmen, starrte sie hinaus in die Dunkelheit. Der Mond stand als gelbe, fleckige Scheibe über den Höhen.
Wie oft hatte sie in den vergangenen Monaten abends oder nachts vor dem Fenster gesessen und nach draußen gestarrt, stundenlang gestarrt. In der Hoffnung, ihre Gedanken ordnen zu können und einen möglichen Lösungsweg für all ihre Probleme zu sehen. Vergebens.
Sie schloss die Augen und sah ihren Vater, wie er mit ausgebreiteten Armen auf sie wartete. Er lächelte. Als man ihn gefunden hatte, war sein Gesicht verzerrt und unansehnlich. Und neben ihm lag Erbrochenes. Die Polizei meinte, er habe doch noch versucht, seinen Vorsatz rückgängig zu machen und seinen Magen zu leeren. Aber das Gift habe zu schnell gewirkt.
Henry beobachtete Sarah am Frühstückstisch. Ungeschminkt saß sie ihm im Bademantel gegenüber. Er hasste es, wenn sie sich nicht zurecht gemacht hatte. »Dann verdirbst du mir schon morgens die gute Laune«, hatte er einmal zu ihr gesagt. Frauen müssten attraktiv sein, sich schön machen für sie Männer. Und sie besonders, für ihn. Eine besondere Frau für einen besonderen Mann. Aber an diesem Morgen machte er keine bissige Bemerkung. Das
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