Das Erwachen
kennen, scheint die Version der französischen Polizei zuzutreffen. Sie vermuten, dass Ihre Frau den Mann erst flüchtig kannte und eventuell als Anhalterin mitgefahren ist.«
»Sarah und Anhalterin? Nie und nimmer. Sie ist gekidnappt worden.«
Es dauerte einige Minuten, bis die Beamten Henry vom Gegenteil überzeugen konnten. Und dann boten sie ihm an, alle weiteren Fragen auf der Dienststelle zu klären, weil er nun sicherlich etwas Ruhe benötige. Mit diesem vorgeschobenem Argument wollten sie lediglich erreichen, dass die weitere Unterhaltung auf ihrem Terrain stattfinden sollte, wo sie sich sicherer fühlten. Aber Henry wollte jetzt und auf der Stelle über alles informiert werden.
»Beide sind verbrannt. Woher wollen sie eigentlich wissen, dass es Sarah ist?« Henry schaute die Polizisten an in der Hoffnung, eine Blöße entdeckt zu haben.
»Wir haben ihre Ausweispapiere gefunden und ihre Kleidungsstücke. Das heißt, wir nehmen an, es sind ihre Kleidungsstücke. Hat Ihre Frau das Monogramm SVR?«
Henry nickte. »Sarah von Rönstedt.« »Ja.«
»Wir haben auch den Ehering gefunden. Genauer gesagt, unsere Kollegen aus Frankreich. War ihr Hochzeitstag am 30. Juni?«
Wieder bestätige es Henry. Mit leiser Stimme erklärte er: »Das Datum war im Ring eingraviert.«
»Ihre Frau muss identifiziert werden. Und zwar in Perpignan, sonst geben uns die Franzosen den Leichnam nicht frei. Wie wollen Sie weiter vorgehen?«
Ohne zu zögern antwortete Henry: »Ich fliege nach Perpignan.«
»Das wird wohl das Beste sein. Aber wir müssen Sie warnen. Dem Polizeibericht nach soll Ihre Frau kaum noch zu erkennen sein.«
Am Ende der Woche war Henry wieder aus Frankreich zurück. Inzwischen hatte sich die Nachricht vom Tod seiner Frau längst herumgesprochen. Sicherlich ist es in Saarburg nicht anders als in allen anderen Kleinstädten und Gemeinden. Gerüchte kommen auf, kursieren, werden verfeinert, viele dichten einfach etwas hinzu, um sich interessant zu machen. Möglichkeiten gab es auf Henry bezogen zuhauf, allein schon die Art und Weise des Unfalls bot genügend Raum für Spekulationen. Wie überall, so streute man auch in Saarburg die Gerüchte in der Absicht, gewisse Wirkungen zu erzielen. Endlich konnte man es dem von Rönstedt zeigen, er war wehrlos. Und bei vielen Bürgern der Stadt schien sich etwas aufgestaut zu haben, was sich nun in den unterschiedlichsten Varianten entlud. Aus der Fahrt per Anhalter wurde die Fahrt mit einem Liebhaber, den Sarah seit Jahren regelmäßig aufgesucht hatte. Einige wussten zu berichten, dass es ihn schon vor der Ehe gegeben habe. Das machte sich besser und setze Henry, wenn er davon erführe, aus Sicht der Urheber einen tieferen Stachel. Und in Saarburg soll er auch schon mal gewesen sein. Im Hotel Am Markt sei er abgestiegen. Das wussten einige ganz genau. Groß war der Franzose, dessen Eltern in Lothringen wohnten, einen Tag später wohnten sie in der Bretagne, braun gebrannt mit langem, welligem, schwarzem Haar. Und er trug eine Brille, wie eben alle Dozenten. Nach wenigen Tagen ergab sich für die Kleinstadt ein genaues Bild des Franzosen: Er war zwischen 1,60m und 2m groß, braun bis schwarz und blond mit Halb- oder Vollglatze, athletisch schlank mit großem Übergewicht, trug eine Brille oder auch nicht, hatte enormes Vermögen und lebte trotzdem von der Sozialhilfe, weil er als Dozent arbeitslos geworden war.
Henry suchte Benedikt Ollenwein, seinen Anwalt, auf, der ihn seit Jahren in geschäftlichen wie auch in privaten Angelegenheiten beriet. Beide kannten sich seit ihrer Schulzeit vom Saarburger Gymnasium. Und beide hatten gemeinsam genügend erlebt, besonders in ihrer wilden Studentenzeit, wodurch sie einander gut einschätzen konnten. Später fertigte Ollenwein für Henry alle Verträge, die juristisch so geschliffen und perfekt formuliert waren, dass Henry dadurch manchen Coup hatte landen können. Allerdings waren Ollenweins Rechnungen auch nicht ohne. Freunde ja, aber Geschäfte, das war etwas anderes.
Henry informierte Ollenwein über Sarahs Tod und seine Frankreichreise und dass selbstverständlich die Polizei eingeschaltet worden sei.
»Ich war in Perpignan und habe mir Sarah angeschaut. Kein schöner Anblick, Benedikt. Kein schöner Anblick.«
»Konntest du sie denn zweifelsfrei identifizieren?«
»Alles verbrannt. Das ganze Gesicht. Hast du schon mal einen bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Körper gesehen?«
Ollenwein verneinte und wunderte sich
Weitere Kostenlose Bücher