Das Erwachen
übers Henrys Ruhe.
»Nur an ihren Zähnen konnte ich sie erkennen. Sarah hatte so schöne Zähne. Und am Ehering und den Kleidungsstücken. Natürlich auch an ihrer Figur. Aber alles verbrannt, bis auf eine Stelle am Rücken alles verbrannt.«
»Suchst du mich als Anwalt auf oder als Freund.«
»Brauche ich dich als Anwalt?«
Ollenwein schüttelte den Kopf.
»Siehst du. Ich muss über die Sache reden. Das nimmt einen ganz schön mit.«
»Auf mich machst du einen ruhigen Eindruck.«
»Ich bin eher … wie soll ich sagen, verstört oder irritiert. Mit so etwas rechnest du ja nicht. Und nicht zu vergessen: die letzten drei Wochen mit all der Ungewissheit, also ich sage dir, das kann einen ganz schön fertig machen.«
Durch Nicken signalisierte Ollenwein, dass er Verständnis hatte für Henrys Situation.
»Wann wird sie beerdigt?«
»Anfang der Woche, in aller Stille und im engsten Kreis. Im ganz engen Kreis. Aber behalte das bitte für dich.«
»Gibt es Probleme mit dem Nachlass?«
»Du hast doch unseren Ehevertrag gemacht. Das müsste ich dich fragen.«
Ollenwein lächelte. »Aus dieser Richtung wird es keine Probleme geben, mein lieber Henry.«
Ollenwein fühlte sich verpflichtet, Henry beizustehen und bot seine Hilfe an. Und er fühlte sich verpflichtet, mit ihm noch zumindest ein Bier zu trinken.
»Vielleicht können wir auch noch einen Happen essen. Spät genug ist es ja schon.«
Ollenwein war erstaunt, dass Henry, dem sonst ein Restaurant nie fein genug sein konnte, schon einige Male war er nur wegen eines Abendessens nach Paris gefahren, sich eine ganz normale zünftige Gaststätte an der Saar aussuchte, bekannt für ihren Grillschinken und die Haxen. Ausgerechnet dort, wo man auch noch Saarburger antreffen konnte und ständig der Fernseher lief.
Und noch mehr staunte er, als Henry sich eine Schweinshaxe bestellte, ohne Pasteten, ohne Trüffelsoße und ohne Kaviar. Ohne Vorspeise und ohne Aperitif. Schweinshaxe mit Kartoffeln, Sauerkraut und dazu ein Bier.
»Jeder weiß, dass es in eurer Ehe gekriselt hat.«
Henry schaute kurz auf. »Mich interessieren die anderen nicht.«
»Henry, du bist Geschäftsmann, dich haben andere zu interessieren. Das blaue Auge von Sarah ist stadtbekannt. Alle nehmen an, es stamme von dir. Und nun die Gerüchte mit Frankreich und ihrem Liebhaber, dem Professor, den sie jeden Monat aufgesucht hat.«
Obwohl Henry das Gerücht zum ersten Mal mitgeteilt bekam, interessierte er sich auch dafür nicht sonderlich.
»Die Pinscher brauchen doch etwas, worüber sie sich die Mäuler zerreißen können.«
»Willst du denn nicht gegen einen von ihnen eine Verleumdungsklage anstrengen, damit der Spuk aufhört?«
Henry, mit einem fetten Stück Haxe auf der Gabel, das er gerade in den Mund schieben wollte, sah Ollenwein an. »Und wie wirkt das auf meine potenziellen Kunden, wenn ich einen von ihnen verklage? So etwas spricht sich doch schnell herum.«
Ollenwein zuckte mit der Schulter. »Aber du hättest vorerst Ruhe.«
Henry winkte ab. Keine Klage. Es laufe sich alles tot. Jedes Gerücht werde erst dann richtig interessant, wenn man es mit allen rechtlichen Möglichkeiten zu dementieren versuche.
Nach dem Essen tranken sie einen Mirabellenschnaps. Von der Theke beobachteten sie einige Gäste verstohlen, um anschließend leise zu tuscheln.
»Wie hast du Sarahs Tod verkraftet?«
Henry schien in sich hineinzuhorchen. »Das weiß ich noch nicht so genau. Im Grunde will ich es nicht wahrhaben. Die Wirkung kommt wohl erst noch.«
Ollenwein bot sich erneut an, ihm als Freund zur Seite zu stehen.
»Allerdings«, Henry stockte, »allerdings stellst du mehr und mehr Dinge in Frage, die dir wichtig erscheinen. Warum der ganze Zirkus mit dem neuen Autohaus? Keine Frau, keine Kinder, keine Erben. Etwa für Neffen und Nichten fünften Grades, die sich ins Fäustchen lachen?«
Ollenwein rückte etwas näher und senkte die Stimme. »Zuerst einmal machst du es für dich. Henry, wir brauchen uns nichts vorzumachen. Alles tun wir für uns, nur für uns. Wir beide sind doch die größten Egoisten unter Gottes Sonne.«
Henry wollte zuerst protestieren, aber ein Blick in Ollenweins Gesicht mit dem verschmitzten Lächeln und der Umstand, dass es keinen Zeugen gab, hielten ihn davon ab.
»Ja, du hast wohl Recht.«
»Also beende auch, was du angefangen hast.« Ollenweins Stimme klang pathetisch.
Henry signalisierte Zustimmung. »Ja, man muss eine Aufgabe zu Ende führen. Wie oft habe ich
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