Das Erwachen
sie zusammen und zogen den Kopf ein.
Henry war erneut auf Geschäftsreise. Am Tag seiner Rückkehr, dem zwanzigsten Tag nach Sarahs Verschwinden, Henry hatte gerade seinen Koffer im Schlafzimmer abgestellt, rief Carmen an um etwas in Erfahrung zu bringen und wurde von ihm unfreundlich abgekanzelt. Henry hatte kaum den Hörer aufgelegt, als es klingelte. Über den Türsprecher teilte man ihm mit, dass die Polizei ihn zu sprechen wünsche.
Henry öffnete die Haustür, die beiden Labrador-Hunde stürmten den Weg hinunter zum Tor und bellten. Gemeinsam mit zwei Männern in Anzügen kamen sie zurück, als begleiteten sie gute Bekannte, und rieben sich an deren Beinen.
Breuer war einer von den Besuchern. Während er in seinem Dienstzimmer immer die Krawatte gelockert und den obersten Hemdenknopf offen hatte, trat er heute, wie Henry sofort registrierte, korrekt gekleidet auf. Und ein ernstes, ein fast feierliches Gesicht machte er auch noch.
»Ja bitte?« Henry empfing sie an der Haustür. Wenn es nicht sein musste, dann ließ er unangemeldeten Besuch nicht hinein. Auch nicht die Polizei.
»Dürfen wir eintreten?«
Henry gab zögernd die Tür frei, ging voran ins Wohnzimmer und forderte die Beamten auf, Platz zu nehmen. Sie wollten nichts trinken.
»Herr von Rönstedt«, begann Breuer mit pastoralem Unterton, »wir haben eine traurige Nachricht für Sie.«
Henry setzte sich gerade und wirkte angespannt. »Sarah. Was ist mit Sarah? Geht es ihr gut?«
Die beiden Beamten sahen sich an. Breuer sprach, wie vorher mit seinem Kollegen abgesprochen, weiter. »Ja, wir haben Nachricht von ihrer Frau. Herr von Rönstedt, Sie müssen jetzt stark sein.«
Henry war stark, wovon sich der Beamte augenblicklich überzeugen konnte. Henry sprang auf und fasste Breuer an beiden Oberarmen. Mühelos zog er ihn aus dem Sitz.
»Was ist mit Sarah«, stieß er hervor. Deutlich waren die Adern an seinem Hals zu sehen.
»Bitte, Herr von Rönstedt, lassen Sie mich los.«
Henry reagierte nicht. »Was ist mit Sarah?«
»Sie hatte einen Unfall. In Südfrankreich.«
»Ist sie schwer verletzt?«
Breuer schüttelte den Kopf.
»Also leicht verletzt.«
»Ihre Frau ist tot, Herr von Rönstedt.«
Henry erstarrte. Sein Griff um Breuers Oberarme wurde fester, wie zu einer Klammer. Der Beamte verzog schmerzhaft sein Gesicht.
»Tot?«
»Ja.«
»Sarah ist nicht tot«, behauptete Henry. »Sarah ist nicht tot.« Er schüttelte den Beamten, als könnte er ihn dadurch zu einer anderen Aussage bewegen.
»Würden Sie mich bitte loslassen«, presste Breuer hervor.
Henry ließ ihn achtlos in den Sessel fallen, stellte sich ans Fenster, legte die Stirn gegen die Glasscheibe und sprach leise: »Sarah ist nicht tot. Nein, nicht meine Sarah.«
Die Beamten sahen sich an. Ihren Auftrag hatten sie sich leichter vorgestellt.
Wohl fünf Minuten stand Henry am Fenster, bevor er sich wieder den beiden Männern zuwandte und sie anschaute, als hätte er sie erst jetzt entdeckt. Breuer, der erneut mit einer körperlichen Attacke rechnete, machte sich im Sessel klein. Aber Henry schien sich gefangen zu haben. Mit unnatürlich ruhiger Stimme fragte er: »Wie ist es passiert?«
Breuer nickte zu seinem Kollegen Schares, der nahm aus seiner Jacke einen Umschlag und zog zwei beschriebene Blätter hervor.
»Heute bekamen wir Nachricht von unseren französischen Kollegen. Der Unfall geschah bereits vorgestern in der Nähe von Perpignan auf einer bergigen Nebenstraße. Das Auto wurde wahrscheinlich wegen überhöhter Geschwindigkeit aus der Kurve getragen. Ihre Frau, die gefahren ist, und ein Mann verbrannten.«
»Sarah und ein Fahrer? Ein Mann?«
»Ja«, bestätigte der Beamte.
»Wer war es?«
»Der Halter des Fahrzeuges, ein gewisser …« Schares schaute auf dem Blatt nach, »… ein gewisser Armand Molière.«
»Wie alt?«
Die Beamten sahen sich an. Schon seltsam, welche Fragen diesem von Rönstedt in einer solchen Situation einfielen.
»Siebenunddreißig«, wurde Henry geantwortet.
»Nur Sarah und der Fahrer.«
»Ja.«
Henry wanderte im Raum umher und lief dem Muster des Teppichs nach. Er umrundete Sessel und Stühle und eine Couch und blieb vor Breuer stehen. »Wir kennen keinen Armand Molière. Wer ist das?«
»Dozent für Geschichte an einer Universität.«
»So, so. Ein Dozent also. War Sarah länger mit ihm zusammen?«
»Dies hofften wir, eventuell von Ihnen zu erfahren, Herr von Rönstedt«, meinte Breuer. »Da Sie diesen Herrn jedoch nicht
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