Das Erwachen
antwortete er fest. »Ich weiß es wirklich nicht. Seit diesem Brief aus Konstanz habe ich von ihr kein Lebenszeichen erhalten.«
Carmen musterte ihn abschätzend. Auf seiner Oberlippe standen feine Schweißperlen. Aber er wich ihrem Blick nicht aus.
»Teilen Sie mir mit, wenn sie sich meldet«, sagte Carmen, stand auf und bedankte sich für den Kaffee. Sie bat nicht um Mitteilung, sondern forderte ihn auf, es gefälligst zu tun. Und Henry nickte.
Auf dem Weg zu ihrem Auto, welches sie auf dem zentralen City-Parkplatz abgestellt hatte, versuchte Carmen, sich ein Bild von Henry zu machen und dessen Reaktionen einzuschätzen. Er bot ein indifferentes Bild. Zum einen die nach außen bewusst zur Schau gestellte Selbstsicherheit und eine nicht mehr zu überbietende Arroganz, wenn er sich im Vorteil wähnte. Hinzu kam seine körperliche Dominanz, die er gekonnt einzusetzen vermochte und die beides noch verstärkte. Im Gegensatz dazu das fast kindliche Erröten beim geöffneten Hosenlatz und schließlich ein fast schon unterordnendes Entgegenkommen. Weil er dachte, sie sei im Besitz von Beweisen, die ihn belasten könnten.
Aber bevor er jemandem entgegenkommt, sinnierte Carmen, ist er erst einmal auf hundertachtzig und versucht, ihn einzuschüchtern. So verhalten sich noch nicht einmal männliche Tiere in der Brunft. Nur über einen Punkt war sie sich im Klaren: Henry schien tatsächlich nicht zu wissen, wo sich Sarah befand.
Carmen suchte an diesem Tag auch noch andere Freunde und Bekannte von Sarah auf, aber weiterhelfen konnte ihr niemand. In einem waren sich jedoch alle einig: Henry litt sehr unter Sarahs Abwesenheit. Er werde zunehmend unruhiger und gereizter, könne sich nicht mehr so recht konzentrieren. Die Ungewissheit mache ihn fertig. Dies wiederum bedauerte Carmen nicht. Für manche ist eben Schadenfreude die schönste Art der Freude. Und sie schloss sich auf Henry bezogen nicht aus.
Henry war viel unterwegs. Spontan fuhr er ein paar Tage nach Chamonix, um sich etwas zu entspannen, trat dann aber doch früher als geplant die Heimreise wieder an. Sein erster Weg führte ihn zielgerichtet, als hätte er es sich genau überlegt, zur Sparkasse, um über das Konto seiner Frau Auskunft zu erhalten. Nachdem er verdeutlichen konnte, dass auch er verfügungsberechtigt sei, teilte man ihm den Kontostand mit. Das Konto war mit fünfzehntausend im Minus, ein größerer Betrag war vor zwei Wochen abgebucht worden.
Den Kontostand hätte Henry auch vom Computer aus abfragen können. Aber so hatte er einen Grund, sofort zur Polizei zu gehen und dort den Kontoauszug als Indiz zu präsentieren.
»Einen Tag vor dem Datum des Briefes aus Konstanz«, sagte Oberkommissar Breuer, meinte den abgehobenen Betrag und fügte hinzu: »Ein Donnerstag, das passt.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Ihre Frau hat sich mit ausreichend Geld eingedeckt und will sich für eine gewisse Zeit separieren.«
Henry schaute groß, denn diese Ausdrucksweise hatte er dem einfachen Beamten nicht zugetraut.
»Würde sie mit Schecks bezahlen, wäre es für uns einfacher, fügte Breuer hinzu. »Dann hätten wir wenigstens eine Spur. So müssen wir warten, bis ihr das Geld ausgeht oder sie nach Hause kommt.«
Nach einem Anruf bei der Sparkasse wusste Breuer auch, dass Sarah den Betrag per Barscheck abgehoben hatte.
Weil ihm der Beamte keine Neuigkeiten mitteilen konnte, verabschiedete sich Henry schnell.
In der Folgezeit nahm seine Unruhe, die sich in fahrigen Bewegungen und einer abgehackten Sprechweise äußerte, noch mehr zu. Wer ihn aus seinem Bekanntenkreis beobachtete, konnte den Eindruck gewinnen, dass Henry voller Ungeduld auf etwas zu warten schien. Immer wieder schaute er, wenn er im Büro saß, durch die geöffnete Tür in den Verkaufsraum, dann wieder auf die Uhr oder auf sein Handy, als erwarte er jeden Augenblick einen Anruf. Sprach man Henry an, hörte er nicht zu. Oder er beantwortete die Fragen wesentlich später und aus dem Zusammenhang gerissen. Seinen Geschäftspartnern kam es vor, als sei Henry, weil er sich mehr und mehr wiederholte, abgespannt und geistig nicht auf der Höhe. Alle merkten es, nur Henry scheinbar nicht.
Sogar die beiden Hunde registrierten die Veränderung ihres Herrchens. Ging Henry einmal mit ihnen spazieren, schlichen sie, ihn ständig aus den Augenwinkeln beobachtend, mit gesenktem Kopf, angelegten Ohren und eingekniffenem Schwanz in zwei Metern Abstand neben ihm her. Gab er ein Kommando, dann zuckten
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