Das Erwachen
Sie bitte deutlicher.« »Herr von Rönstedt, haben Sie Sarah geschlagen?«
Henry gab sich entrüstet. »Was erlauben sie sich, Dr. Sigallas.«
Für Carmen war es fremd, mit ihrem akademischen Titel angesprochen zu werden. Aber Henry gehörte zu jener Kategorie, die auf Titel und Äußerlichkeiten großen Wert legen. Und das mit Absicht, schließlich wollte er auch, dass man all die Dinge bei ihm beachtete, seine teuren und auffallenden Accessoires, und ihn entsprechend bevorzugt behandelte. Deshalb legte er auch auf dieses »von« vor seinem Namen enorm großen Wert. Auch wenn es nicht wie ein Doktortitel erarbeitet, sondern lediglich geerbt war.
»Herr von Rönstedt, nicht so laut. Die Kunden und Ihre Angestellte schauen schon zu uns herüber.«
Henry schien sich zu besinnen. Aber sein Gesicht drückte Ablehnung aus. Und hatte zudem einen beleidigten Ausdruck, weil ihm die Ärztin so etwas Verwerfliches unterstellte. Er und eine Frau schlagen, nie und …
»Vor meinem Urlaub habe ich die blauen Flecke Ihrer Frau gesehen. Und ich kenne die Art ihrer Entstehung. Reden wir doch offen.«
»Spanien oder Italien?«
»Wie bitte?«, fragte Carmen.
»Wo waren Sie denn in Urlaub? Spanien oder Italien?«
Carmen war etwas ungehalten wegen des Themenwechsels. Wollte Henry ablenken? Deshalb fiel ihre Antwort knapp aus.
»Weder noch. Florida.«
»Interessant. Etwas für ältere Herrschaften. Florida, die größte Seniorenresidenz auf dieser Erde.«
Henry registrierte Carmens Irritation wegen dieser Anspielung. Aber sein Gesicht blieb undurchdringlich. Erneut verschränkte er die Arme vor der Brust und signalisierte damit seine Ablehnung. Und als er etwas die Beine spreizte, begann Carmen zu schmunzeln.
»Stimmt was nicht?«
Sie beugte sich zu ihm und sprach leise: »Herr von Rönstedt, ich kenne zwar nicht die Gebräuche und Sitten hier in diesen Räumen, aber Ihr Hosenschlitz ist offen.«
Henry erstarrte, sah an sich herunter, zog hastig den Reißverschluss zu, schaute sich um, ob auch niemand das mitbekommen hatte und lief rot an.
»Entschuldigung«, murmelte er. »Ist mir sehr peinlich.«
Carmen amüsierte sich über seine Verlegenheit, die überhaupt nicht in das Bild passte, welches sie von dem blonden, selbstbewussten Geschäftsmann hatte.
»Wie gesagt, ich habe die blauen Flecke gesehen und weiß, sie stammen von Ihnen«, sprach Carmen ruhig weiter.
»Wie können Sie es sich erlauben …«
Sie hob nur leicht eine Hand, Henry verstummte. »Und mir ist bekannt, dass Sie ihre Frau vergewaltigt haben.«
Henry erstarrte für eine halbe Sekunde, sprang dann hoch wie ein Stehaufmännchen, ballte die Fäuste, und für einen Augenblick dachte Carmen, er würde sich auf sie stürzen.
»Ich weiß einiges über Sie und Ihre Ehe. Und wenn Sie sich jetzt nicht wieder setzen, dann spreche ich eben lauter über Vergewaltigung und Schläge in der Ehe. In Ihrer Ehe, Herr von Rönstedt.«
Henry nahm Platz, und die Art wie er es tat, verwunderte Carmen ebenfalls. War es Einsicht, sich so zu verhalten, damit nicht jeder ihr Gespräch mitbekam, oder reagierte er aus Angst. Und wenn Angst, wovor? Dass sie ihre Informationen weitergeben würde an die Polizei? Oder war es Angst davor, einen Mitwisser zu haben, der nicht kalkulierbar zu sein schien und gefährlich werden konnte? Zu gerne wäre sie Zeuge gewesen, welche Aktivität sich zwischen Henrys Gehirnwindungen abspielte.
»Frau Dr. Sigallas«, zwang sich Henry zu einem normalen Tonfall, »Sie erheben sehr schwere Beschuldigungen gegen mich. Sie sind sich doch im Klaren, dass ich Sie juristisch wegen Verleumdung belangen kann?«
»Tun Sie das nur, dann gehen gewisse … Fotos und Krankenhausaufzeichnungen und Tonbänder an ganz bestimmte Stellen.«
Carmen hatte nur geblufft. Außer den Aufzeichnungen aus dem Krankenhaus und Sarahs mündlichen Ausführungen konnte sie nichts vorweisen. Aber Henry schluckte den Brocken.
»Was wollen Sie von mir? Mich erpressen?«
Die Art, wie Carmen lächelte, zeigte an, sie hatte gewonnen. Und aus ihrer Position war es nun ein Leichtes, die Überlegene zu spielen. Das ließ sie Henry auch spüren. »Manche Unterstellungen sind so niveaulos, dass ich nicht auf sie reagiere, Herr von Rönstedt.«
Henry überlegte. Seine Hände glitten über die Oberschenkel, als wollten sie die Hose bügeln.
»Ich will von Ihnen erfahren, wo Ihre Frau ist.«
Henry schaute sie an und Carmen war von diesen Augen etwas verwirrt. »Ich weiß es nicht«,
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