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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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durchzuckte es ihn, dass genau dieses Verhalten von Sarah ihn seinerzeit enorm aufgeregt hatte. Und jetzt mache ich es selbst, stellte er lakonisch fest. Aber es sieht ja keiner.
    Der eine Cognac half noch nicht, ein zweiter, dann ein dritter. Die Achterbahn im Kopf wurde ruhiger, seine Gedanken schlichen nur noch, Henry fühlte sich auf Wellen gehoben, schwebte auf und ab und döste ein. Wie lange er geschlafen hatte, er wusste es nicht. Henry wollte aufstehen. Aber er konnte nicht aufstehen. Und dann fragte er sich: Bin ich wach oder träume ich?
    Auch das wusste er nicht. Als er jedoch die Augen aufschlug, wusste er genau, er träumte. Er schaute in das helle Licht und ahnte, wo er sich befand: im Weinkeller. Und das Licht war deswegen so hell, weil er persönlich vor einigen Tagen eine neue Birne eingedreht hatte.
    Es verwunderte Henry nicht, dass er nackt war. Wie in meinem letzten Traum, sagte er sich im Traum. Und erneut entdeckte er ein blaues Schleifchen um seinen Penis. Und seine Hände waren gefesselt.
    Henry lag auf einer Decke. Er wartete. Er wartete auf die Stimme, die ihm befahl, etwas zu tun oder etwas zu erzählen.
    »Wo bist du?«, fragte er und schaute um sich.
    Keine Antwort.
    »Redest du heute nicht mit mir?«
    Immer noch keine Antwort.
    »Soll ich wieder im Kreis laufen?«
    Henry wartete erst gar keine Antwort ab, erhob sich mühsam und lief im Kreis.
    »Siehst du, ich mache alles, was du willst«, sagte er und sah zur Decke, wo die Stimme sein könnte. »Und ich erzähle dir auch alles. Was willst du wissen?«
    Aber die Stimme meldete sich nicht.
    »Wieder vom Kindergarten?«
    Als keine Antwort kam: »Also nicht vom Kindergarten.«
    Henry tippelte langsam mit kleinen Schritten und murmelte Mal ums Mal: »Also nicht vom Kindergarten. Schön. So gut erinnere ich mich auch nicht mehr. Und die Kindergärtnerinnen waren auch alle doof. Noch nicht einmal die Wände mit Farbe bemalen durfte man. Genau wie zu Hause. Dafür aber brauche ich nicht in einen Kindergarten zu gehen, wenn es da wie zu Hause ist. Nur in die Ecke stellen musste ich mich nicht. Und es gab auch kein Pflaster auf den Mund. Und geschlagen hat man mich nur ein Mal. Aber der Stefan war schuld. Er hat Pipi in Hildes Teeflasche gemacht. Nicht ich. Aber mich haben sie geschlagen. Dabei habe ich Pipi in Christas Trinkflasche gemacht. Die hat vielleicht geguckt? Aber das hat keiner gemerkt. Darf man jemanden für etwas bestrafen, was er überhaupt nicht getan hat? Ich verstehe dich nicht. Darf man? Papa meint ja. Denn wenn etwas nicht stimmte, dann hat er mich bestraft. Obwohl ich es nicht war. Nur weil ich es seiner Meinung nach hätte sein können. So etwas ist doch ungerecht.«
    Mehrere Minuten drehte es sich schweigend im Kreis. Zwischendurch legte er den Kopf auf die Seite, als hätte jemand etwas gesagt. Und er schaute wiederholt hoch zur Decke, wo die Stimme, die Engelstimme, das letzte Mal hergekommen war. Engel reden immer von oben zu einem. Das wusste er.
    Unaufgefordert begann er schließlich von der Schule zu erzählen. »Ich hatte eine große Tüte, die größte von allen. Und sie war randvoll mit Süßigkeiten. Jeder wollte davon naschen, aber ich habe alles verteidigt. Einem habe ich sogar auf die Hand geschlagen. Als ich wieder nach Hause kam, kontrollierte meine Mami die Tüte. ›Da fehlt ein Stück Schokolade‹, stellte sie sofort fest.,Henry, wo ist die Schokolade hingekommen?’ ›Das weiß ich nicht‹, habe ich geantwortet. Aber natürlich wusste ich es, denn ich hatte sie gegessen. Dabei hat meine Mami gesagt, ich müsse alles, was in der Tüte ist, auch wieder nach Hause bringen.«
    Henry hielt inne und lief weiter. »Alles nach Hause bringen«, fügte er hinzu. »Mami hat mich wieder in die Ecke gestellt. Und ich musste zuschauen, wie sie meine Süßigkeiten aufaß. Ein Teil nach dem anderen. Was übrig blieb, hat sie weggeschlossen. Und am kommenden Tag das gleiche Spiel: Ich in der Ecke, meine Mami aß die Süßigkeiten. Eine Woche ging das, dann war die Tüte leer. ›Lass dir das eine Lehre sein‹, hat meine Mami gesagt. Und seit dem Tag hat nie mehr etwas gefehlt. Ich hatte verstanden.«
    Henry lief im Kreis und schaute nach oben. »Kann ich mich hinsetzen?«
    Ja, du kannst dich hinsetzen, hörte er endlich die Stimme. Henry war erleichtert. »Wo steckst du eigentlich?«
    Überall.
    »Dann musst du auch hier drinnen sein. Aber ich kann dich nicht sehen.«
    Genügt dir nicht, dass du mich hörst?
    »Doch,

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