Das Erwachen
musste er eine neue Birne eindrehen. Dann sah er sich in dem Raum um auf der Suche nach einem Beweis, dass er hier einen Teil der Nacht verbracht hatte. Er kniete sich auf den Boden, schaute unter die Regale, hob sogar das Gitter des Abflusses hoch, aber einen Beweis entdeckte er nicht.
Zufrieden, dass ihm sein Gehirn keinen Streich gespielt hatte und alles wirklich nur ein Traum gewesen war, erhob er sich und ging zurück ins Wohnzimmer. Als er seine Armbanduhr überstreifte, kam ihm das linke Handgelenk gerötet vor. Und das rechte ebenfalls. Wie von Fesseln. Wie von den Fesseln der vergangenen Nacht, überlegte er. Wohl zwei Minuten stand Henry regungslos und schaute immer wieder auf seine Handgelenke. Hatte er vielleicht im Traum an ihnen gerieben? Das wäre eine Erklärung.
Während er in seinem Büro saß und durch die große Glasscheibe im Verkaufsraum die Kunden und das Personal beobachtete, meldete sich immer wieder sein seltsamer Traum. Und immer wieder betrachtete er sich seine Handgelenke.
»Wenn das so weiter geht, lande ich doch noch bei Klaus auf der Couch«, murmelte er vor sich hin und meinte Klaus Ludevik, den Psychologen.
Bevor Henry zur Mittagszeit in sein Auto stieg, umrundete er es und spähte in das Innere. Er wollte gewappnet sein, falls er eine Unregelmäßigkeit entdecken sollte. Erst als dies nicht der Fall war, stieg er ein und fuhr nach Hause zum Mittagessen.
Mary hatte sich sehr viel Mühe gegeben mit dem Sauerbraten, und Henry lobte sie erneut. Mary wusste nicht, wie ihr geschah. Verlegen schaute sie ihn an. Hinter den Brillengläsern wirkten ihre Augen groß.
»Hat sich das mit den Anzügen geklärt?«, fragte sie und ordnete unauffällig ihren Zopf. Das hätte sie besser nicht getan, denn Henry erstarrte mitten in der Bewegung, ließ das Besteck fallen und stürmte ins Schlafzimmer. Den Schrank aufgerissen, hineingestarrt, und dann erst war er beruhigt. Alles hing so, wie es zu hängen hatte.
Er warf auch noch einen Blick in die Kommode, wo seine Unterwäsche wie für einen Fototermin präsentiert war. Henry nickte zufrieden, alles war in Ordnung. Weil er schon dabei war, auch noch die Küche inspiziert und dort besonders die Schublade für Besteck. Sämtliche Gabeln, Messer und Löffel säuberlich aufgereiht, teils nebeneinander, teils übereinander.
Jetzt erst machte sich Henry über den Rest des Essens her. Zum Nachtisch gab es rote Grütze. Henry aß genussvoll und entdeckte … eine Fliege. Mitten in der Grütze eine Fliege.
Nun war Mary fällig. Aufs Übelste beschimpfte er sie. Wie denn die Fliege in die Grütze komme? Ob sie denn nicht aufgepasst habe?
Wild mit den Händen fuchtelnd stand er vor der eingeschüchterten Haushaltshilfe und hielt ihr eine Standpauke. Näher und näher trat er, und Mary wich vor ihm zurück bis an die Küchenwand.
Mary war mit ihrer Geduld am Ende, nahm all ihren Mut zusammen, zog die Schürze aus, ließ sie einfach auf den Boden fallen und sagte: »Ich kündige. Bei einem Verrückten bleibe ich nicht länger.«
Zuerst wollte Henry so reagieren, wie er immer reagiert hatte. Aufbrausen, schreien, drohen und beschimpfen. Aber nie jemandem nachlaufen, nie eine Schwäche zeigen. Er allein war im Recht. Dann fiel ihm siedend heiß ein, es gab keine Sarah, es gab dann auch keine Mary mehr, nur er und die Hunde. Und die Unordnung.
Henry lief hinter Mary her, die bereits an der Garderobe ihren Popelinemantel anziehen wollte und überredete sie, zu bleiben. Er sei mit den Nerven etwas fertig, kein Wunder, wenn man seine Frau auf solch tragische Weise wie er verloren habe.
Und weil Henry, wenn er es darauf anlegte, durchaus charmant sein konnte, gelang es ihm, Mary, die immer unschlüssiger wurde, zu überreden. Ab dem nächsten ersten bekäme sie auch mehr Gehalt. Mary willigte schließlich ein. Immerhin war sie schon fünf Jahre bei dem jungen von Rönstedt.
Was ist mit mir los, fragte Henry sich wenig später, als er auf der Terrasse stand und das gegenüberliegende Ufer der Saar betrachtete. Was geschieht mit mir? Sehe ich schon grüne Männchen? Leide ich unter Gedächtnisverlust? Oder rede ich mir nur Dinge ein, die sich einfach erklären lassen?
Weil sich in den kommenden Tagen nichts tat, was ihn hätte beunruhigen können, legte sich seine Unsicherheit und er gewann wieder annähernd das alte Format. Seine Mitarbeiter merkten es als erste. Aber wenn Henry ehrlich zu sich war, dann musste er sich eingestehen, dass er lediglich
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