Das Erwachen
verstecken. Nein, ich hatte keine Angst. Nie im Leben. Ich habe nur gepfiffen, um die anderen im Keller zu warnen: Jetzt komme ich. Und das hat auch gewirkt, denn ich habe nie jemanden gesehen. Alle haben sie sich vor mir versteckt. Die hatten Angst vor mir. Und wenn mein Zimmer dunkel war, habe ich auch geredet oder gepfiffen. Ich bin sogar ganz alleine in den Wald gegangen. Papa wollte das nicht glauben. Da habe ich ihn mitgenommen und gesagt: ›Du bleibst hier, und ich gehe allein‹. Das habe ich dann auch getan. Und Papa war stolz auf mich. Er kenne keinen Jungen von acht Jahren, der so viel Mut habe wie ich, hatte er gesagt. ›Du bist ein mutiger und tapferer Junge.‹ Ja, genau das hat er gesagt.« Henry schaute zur Decke: »Na, was meinst du? Bin ich mutig und tapfer?«
Aber die Stimme antwortete ihm nicht.
»Ich bin doch allein hier in dem Raum. Das ist ganz schön mutig.«
Wieder erhielt Henry keine Antwort.
»Mit neun bin ich sogar allein in ein altes Haus gegangen. Hinunter in den Keller und hoch ins Dach. Papa hat gesagt, wenn ich das mache, dann gibt es zwei Mark. Die habe ich mir verdient. Und Papa kam oft und hat gesagt: ›Henry, wenn du das machst, dann gibt es zwei Mark.‹ Einmal sollte ich einen Jungen aus meiner Klasse verprügeln. Er hat mir nichts getan. Aber Papa war böse gewesen, weil er mit schmutzigen Fingern über sein gerade poliertes Auto gefahren war. Drei Streifen waren auf dem Lack zu sehen, wenn man sich bückte und gegen das Licht schaute. Und dann habe ich ihn geschlagen. Mein Herz hat ganz wild gepocht. Bum bum, bum bum, bum bum. Aber ich habe die Augen zugemacht und geschlagen. Immer wieder. Und ich wurde auch geschlagen. Nicht von dem anderen Jungen, sondern von mir selbst. Jeder Schlag hat mir weh getan.«
Henry plapperte unermüdlich. Von der Schulzeit bis zum Abitur, erwähnte die Streiche, die sie anderen Schülern und den Lehrern gespielt hatten, erzählte von Freundinnen, mit denen er sich heimlich getroffen und deren Umgang ihm dann seine Mutter verboten hatte. ›Weil sie nicht zu uns gehören‹, habe sie gesagt. ›Und für uns und unsere Probleme kein Verständnis haben.‹ Auf seine Eltern habe er immer gehört. Schließlich seien sie ja auch schon so viel älter gewesen und hätten auch die entsprechende Lebenserfahrung gehabt. Und weil er so brav und folgsam war, hatten ihn seine Eltern stets belohnt. Jede gute Tat verdient Anerkennung’, meinte sein Vater und gab ihm fünf Mark.
Als Henry erwachte, sich in seinem Bett liegend orientierte und irgendwie erleichtert war, dass er nicht im Weinkeller lag, kamen aber bereits die ersten Zweifel. So wie einige Tage zuvor. Hatte er tatsächlich geträumt?
Er schnellte hoch, verharrte einen Augenblick, ihm wurde schwindelig, rannte in den Weinkeller, wollte das Licht anmachen, es funktionierte nicht. Wohl zehnmal betätigte er den Schalter, vergeblich. Ungläubig starrte Henry die Lampe an, als würde sie ihn verhöhnen. Dabei wusste er doch genau, dass er die Birne gewechselt hatte. Eine von sechzig Watt war es gewesen. Matt, nicht durchsichtig.
Für zwei Minuten wusste Henry nicht, was er tun sollte. Schließlich entschloss er sich, zuerst einmal zu duschen. Dabei konnte er stets gut überlegen.
Er frühstückte im Bademantel, Mary bekam vor Verwunderung den Mund nicht zu und vergewisserte sich immer wieder mit schnellen Blicken, ob sie sich auch nicht getäuscht hatte. Und ungekämmt war der Herr von Rönstedt auch noch.
Während Mary den Kaffee ausschenkte, bemerkte sie, dass das Besteck falsch lag. Sie hätte schwören können, gestern Abend richtig eingedeckt zu haben. Noch bevor sie es korrigieren konnte, griff Henry danach, vertauschte es und aß weiter, als hätte er nichts bemerkt.
Mary ging nachdenklich in die Küche, steckte den Zopf mit zwei Klammern fest und fragte sich, was diesen von Rönstedt denn so verändert habe. Und das fragten sich die Mitarbeiter des Autohauses auch, als Henry die Geschäftsräume betrat. Keine Krawatte hatte er umgebunden und die Jacke stand offen. Außerdem trug er die gleichen Schuhe wie am Tag zuvor.
»Ist dir nicht gut?«, wollte Norta wissen, der zweite Geschäftsführer, den er schon von Jugend auf kannte. »Du siehst so blass aus.«
Henry reagierte erst verzögert. »Was … wie bitte? Nein, schon gut, alles in Ordnung«, entgegnete er und betrachtete sich seinen aufgeräumten Schreibtisch und die Oberfläche des ausgeschalteten Monitors. Es war alles in
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