Das Erwachen
Ordnung.
»Um zehn hast du einen Kundentermin. Es geht um den Sechszylinder. Du weißt, der Kerl will nur mit dir reden.«
Henry nickte, ohne etwas verstanden zu haben. Norta ließ ihm einen Kaffee bringen und spazierte wiederholt an der offen stehenden Tür zu Henrys Büro vorbei, um immer wieder mal einen Blick hineinzuwerfen. Auch nach einer halben Stunde saß Henry noch genauso wie zu Beginn. Und der Kaffee war unberührt.
Gegen zehn teilte man Henry mit, Herr Saitzinger sei da, wegen des Sechszylinders.
Henry schien zu erwachen, nickte mehrmals, stand auf und ging hinaus. Fast apathisch begrüßte er den Kunden und beantwortete stereotyp dessen Fragen.
»Dann sind wir ja soweit handelseinig«, meinte Saitzinger. »Nur über den Preis müssen wir noch einmal reden.«
Henry nickte. »Ja, über den Preis.«
»Ich will noch fünf Prozent Rabatt haben«, forderte der Kunde. »Das wären dann genau fünfunddreißigtausend.«
Wieder nickte Henry. »Ist gut, ich gebe Ihnen das Auto für fünfzehntausend.«
»Wie bitte?« Saitzinger starrte ihn mit großen Augen an.
» Fünfzehntausend.«
Norta war hinzugekommen und wollte Henry etwas ins Ohr flüstern. Aber der ließ sich nicht beeinflussen, er war der Chef. Und der Kunde, ganz unruhig geworden, drängte nun vehement auf die vertragliche Fixierung. Zehn Minuten später hatte er das Auto für fünfzehntausend gekauft.
»Bist du denn verrückt?«, stellte ihn Norta zur Rede. »Du verschenkst dein Geld.«
»Ja, ich verschenke mein Geld.«
»Bitte, Henry, geh nach Hause.«
Henry verließ sein Büro und blieb inmitten des Ausstellungsraumes stehen. Mit lauter Stimme sprach er zu den vier Kunden, die sich verschiedene Modelle anschauten: »Wer zuerst bei mir ist, kann sich hier im Raum ein Auto für zehntausend Euro aussuchen.«
Norta wollte Henry aus dem Haus geleiten, die Kunden verharrten einen Augenblick und überlegten. Einer überlegte schneller als die anderen, hatte aber den weitesten Weg. Und als er zu spurten begann, taten es ihm die anderen nach. Eine Frau war zuerst bei Henry und klammert sich an seine Jacke.
»Stimmt das wirklich, Herr von Rönstedt?«
»Hat ein von Rönstedt jemals sein Wort nicht gehalten?«
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Welches Auto möchten sie?«
Sie ging nicht auf den teuersten, nicht auf den schönsten und nicht auf den sportlichsten Wagen zu, sondern auf einen Kombi, den praktischsten. »Den hier bitte schön. Ich habe Kinder, und es muss ein Kombi sein.«
»Gut, für zehntausend gehört er Ihnen.«
Norta schaffte es, Henry hinaus zu geleiten und zum Auto zu zerren. Er machte die Tür auf und drückte Henry auf den Fahrersitz. »Zwanzigtausend bei dem Sechszylinder und nur zehntausend bei dem Kombi. Das war ein teurer Tag für uns, Henry.«
Nun, in einem täuschte sich Norta. Zwar verloren sie an dem heutigen Tag einiges an Profit, aber die verrückte Eskapade von Henry sprach sich wie ein Lauffeuer herum und stand sogar zwei Tage später im Kreisblatt und in der überregionalen Zeitung, dem Volksfreund. Am gleichen Tag noch kam ein Bericht im Radio, Ende der Woche baute sich ein Fernsehteam vor der Tür auf und machte Aufnahmen fürs Regionalprogramm.
Sofort setzte ein viele Wochen andauernder Run ein, der Norta die Sprache verschlug. Alle wollten zu Henry, sie lauerten ihn richtig auf. Aber Henry ließ sich nicht blicken. Trotzdem machten sie Umsätze wie noch nie. Schon um ein Mehrfaches hatten sie die Verluste ausgebügelt. Wirklich genial, dieser Henry mit seiner unkonventionellen Marketingstrategie.
Nun, Henry schien dies alles nicht mehr sonderlich zu interessieren. Er schaute täglich im Geschäft vorbei, wurde von Norta abgefangen, bevor sich wartende Kunden auf ihn stürzen konnten, und wieder hinaus oder in ein versteckt liegendes Büro geleitet. Er solle sich ein bisschen entspannen. Aber Henry konnte sich nicht entspannen. In seinem Kopf schwirrten viele Geister, die ihm das Entspannen erschwerten. Und so befolgte er nach zwei Wochen den Rat seines Rechtsanwaltes Ollenwein und suchte Klaus Ludevik auf. Ludevik war eigentlich Schulpsychologe, aber daran störte sich Henry nicht. Ihm genügte es, dass er ihn kannte und Vertrauen zu ihm hatte.
Nach wenigen Minuten gab Ludevik seiner Assistentin zu verstehen, sie möge bitte alle weiteren Termine des Vormittages absagen.
Zuerst jedoch sprang Henry, nachdem er sich gerade erst hingesetzt hatte, auf, öffnete das Fenster, warf einen Blick hinaus,
Weitere Kostenlose Bücher