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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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gefesselt. Wie immer. Und lange tat sich nichts. Ich habe gewartet, auf diese Stimme gewartet. Die des Engels. Aber Engel reden wohl nicht, wenn man will sondern nur dann, wenn es ihnen passt. Ich musste lange warten. Und ich habe in der Zwischenzeit mit mir gesprochen. Ich war ja ganz allein. Ich habe mit mir gesprochen. Lange und laut, damit jeder es hören konnte. Ich habe keine Geheimnisse. Und ich bin immer lauter geworden. Vielleicht war außer mir noch jemand im Haus. Er sollte mich hören und mir helfen kommen.«
    Henry schnappte nach Luft, er hatte die Worte hektisch hervorgestoßen, fast ohne zu atmen.
    »War noch jemand im Haus?«, wollte Ludevik wissen.
    »Natürlich. Einer muss mich doch eingesperrt haben.« So wie Henry schaute, war Ludeviks Frage überflüssig. Die Antwort ergab sich doch von selbst.
    »Und wie bist du wieder herausgekommen?«
    Henry stand am Fenster und starrte Ludevik an, als sei er geistig nicht auf der Höhe. Langsam und überdeutlich antwortete er: »Weil er mich wieder rausgelassen hat, Klaus. Verstehst du? Er hat mich wieder rausgelassen. Und zwar derselbe, der mich eingesperrt hat.«
    Ludevik hatte verstanden und gab sich die Anweisung, nicht so viel zu fragen, sondern diesen Henry reden zu lassen. Aber der schwieg im Augenblick.
    »Hattest du Angst vor der Person?«
    »Natürlich nicht«, antwortete Henry sofort und ging einige Schritte im Wohnzimmer umher, beugte sich erneut kurz aus dem Fenster und wanderte anschließend weiter. »Der hätte ruhig kommen sollen. Ich hätte es ihm gezeigt. Trotz der Fesseln. Aber er konnte ja überhaupt nicht in den Weinkeller, der war ja abgeschlossen. Ha, ha, ha, der war ja abgeschlossen. Der hätte sich gewundert.«
    Henry registrierte nicht den eigenen Widerspruch. »Also habe ich mit mir geredet und geredet und geredet. Und auf die Stimme gewartet. Und ich habe geredet.«
    Ludevik konnte sich längst zusammenreimen, dass Henry aus Angst gesprochen hatte. Und er entdeckte auch jetzt in seinen Augen einen ängstlichen Eindruck. Seine Ordnung war aus den Fugen geraten, jemand hatte ihm seine Ordnung gestohlen.
    Henry baute sich vor dem Psychologen auf und stemmte die Hände auf die Hüften. »Plötzlich hörte ich die Stimme. Sie fragte nach Sarah. Alles wollte sie wissen. Wann wir uns kennengelernt hatten, der erste Kuss, die Hochzeit und so. Einfach alles. Und ich habe ihr geantwortet. Schließlich gibt es da nichts zu verbergen. Jeder weiß, wie es um Sarah und mich stand. Und dann fragte mich die Stimme nach Sarahs Vater. Ich weiß nicht mehr so genau, was ich geantwortet habe. Und die fragte mich nach meinen Eltern. Frag sie doch selbst, habe ich gesagt. Wenn du ein Engel bist, dann frag sie doch selbst. Meine Eltern waren liebe und ordentliche Menschen, sie sind bei dir im Himmel. Genau das habe ich gesagt. Und dann wollte die Stimme nichts mehr wissen. Weder von meinen Eltern, noch von Sarah. Sie schwieg ganz einfach. Ich bin wütend geworden. Schließlich ist sie verpflichtet, mir zu antworten. Engel dürfen nicht so einfach schweigen. Engel, das sind doch immer die Guten, nicht?«
    Ludevik bestätigte das und hörte fasziniert zu. Und er schielte auf das Tonbandgerät. Ein kleines rotes Lämpchen signalisierte ihm, es war eingeschaltet. Das Band würde er sich später noch mal in aller Ruhe anhören.
    »Ich bin müde geworden und hatte Hunger. Da habe ich mich zugedeckt und geschlafen. Nicht allzu lange, denn der Boden ist hart und der tut ganz schön weh. Mein ganzer Rücken tut weh. Und die Hüftknochen. Ich glaube, die werden blau.« Henry hob die Jacke an, betrachtete sich seine Hüftknochen und trat zu Ludevik. »Siehst du, wie rot die sind?«
    »Ja, ganz schön rot.« Ludevik hielt sich an die wichtigste Devise aller Psychologen, zuzuhören und nur zu bestätigen, nichts in Frage stellen.
    »Und dann habe ich Hunger bekommen. Bring’ was zu essen, habe ich zu der Stimme gesagt. Und wie Engel nun mal sind, schwuppdiwupp, plötzlich stand ein Tablett in dem Weinkeller mit Essen drauf. Ein Tablett aus unserer Küche. Ich kenne es. Mary serviert damit immer morgens. Der Engel scheint sich gut in unserem Haus auszukennen. Aber Engel kennen sich doch immer aus, Klaus, nicht?«
    »Ja.«
    »Sonst wären sie ja keine Engel«, beantwortete Henry sich seine Frage selbst. »Also, ich habe gegessen. Und dann musste ich pinkeln. Das waren vielleicht Schmerzen! Aber der Engel hat nicht die Tür aufgemacht. Weißt du, Klaus, wohin ich

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