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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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ungewöhnliche Art und Weise unterwegs war. Mehrmals riefen ihn Bekannte an, die Henry in der Stadt gesehen hatten. Und keine fünf Minuten später klingelte es an seinem Privathaus. Ludevik öffnete, vor ihm stand Henry. Barfuß und in einem Schlafanzug. Die Jacke stand offen, vom Gesicht rann ihm der Schweiß über die Brust bis hinunter auf den Hosenbund.
    »Mein Gott, wie siehst du denn aus?«
    »Lass Gott aus dem Spiel, lass mich lieber rein«, keuchte Henry. Er zwängte sich an Ludevik vorbei ins Haus, warf noch einen Blick zurück, als fühle er sich verfolgt, und steuerte auf dessen Wohnzimmer zu. Schwer atmend und mit einem Seufzer, als sei er ein alter Mann, plumpste er in einen Sessel. Wenige Augenblicke später sprang er auf, öffnete das Fenster, schaute über die Brüstung und nahm dann wieder Platz.
    »Hier bin ich«, stieß Henry hervor. »Hier bin ich.« Er streckte die Beine aus und erweckte den Eindruck, als sei er bereit. Ludevik wusste nur noch nicht, wozu.
    »Du hattest wieder diesen Traum?« Ludevik, der inzwischen Henrys Marotten kannte, ließ die Tür zum Wohnzimmer geöffnet, so dass Henry hinaus in die Diele schauen konnte.
    Henry lachte schrill. »Traum sagst du? Es war kein Traum, es war Wirklichkeit. Es war die Hölle. Verstehst du, Klaus? Ich habe die Hölle hinter mir. Die Hölle.« Von unten schaute Henry den Psychologen an. »Die Hölle«, betonte er noch einmal und beugte sich nach vorn. Deutlich zeichneten sich die Adern an seinem Hals ab.
    Ludevik setzte sich zu ihm. Henry sah mitgenommen und schlecht aus. Tiefe Falten, unrasiert, und die Haare wirr und fettig. Nicht nass vom Schweiß, sondern fettig, als hätte er sie Tage nicht gewaschen. Henrys Finger waren ebenfalls schmutzig. Dunkle Ränder unter den Nägeln und erdfarbene, verkrustete Spuren auf dem Handrücken. Und dann erst der Schlafanzug. Er starrte vor Dreck. Ludevik glaubte, Reste von Erbrochenem zu erkennen, erhob sich und ging zu einer Anrichte. Unaufgefordert stellte er einen Schnaps vor Henry. Der kippte den Alkohol mit einem Zug hinunter. Und anschließend trank er noch ein Glas. Henry schmatzte, seine Gesichtszüge entkrampften sich, als ginge es ihm nun besser und er entspannte sich sogar für wenige Sekunden.
    Ansatzlos sprang er dann jedoch wieder hoch, als sei er gestochen worden, und stapfte auf und ab. Drei Schritte, Drehung, drei Schritte zurück, erneute Drehung. Zuerst brabbelte er unverständliches Zeug vor sich hin und fuchtelte mit den Händen. Schließlich wurde er lauter und sprach deutlicher. »Kein Traum, Klaus, kein Traum. Nur Wirklichkeit, alles Realität. So wahr, wie ich hier bei dir bin. Jemand hat mich gefangen gehalten. In meinem eigenen Haus gefangen gehalten. Im Keller. Zwei Tage oder drei. Was haben wir heute?«
    »Samstag.«
    »Dann fast drei Tage. Seit der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag. Ja, in der Nacht ging es los. Schrecklich, sage ich dir, einfach schrecklich. Und das in meinem eigenen Haus.«
    Henry blieb kopfschüttelnd vor Ludevik stehen. Die Schultern hingen nach vorn, seine Brust wirkte eingefallen, nichts war mehr von der gewohnten Spannkraft und Dynamik zu erkennen. »In meinem eigenen Haus. Woanders, das könnte ich ja noch irgendwie verstehen, aber nicht in meinem eigenen Haus.« Henry beugte sich zu dem Psychologen. »Hast du eigentlich zugehört?«
    Ludevik registrierte mit Erschrecken, in welch rasantem Tempo sich Henrys Symptome verstärkten. »Ja, Henry. Drei Tage gefangen in deinem eigenen Haus.«
    Henry nickte und richtete sich etwas auf. »Sollen wir die Polizei rufen? Das ist doch … Freiheitsberaubung. Und Kidnapping. Verstehst du? Das ist ein Verbrechen. Man darf einen unbescholtenen Bürger nicht einsperren. Das ist gegen das Gesetz.«
    »Das entscheiden wir später. Wir beide.« Ludevik sah ihn aufmunternd an, aber Henry bemerkte das nicht. »Henry, jetzt höre ich zu. Ich habe es dir versprochen. Komm immer, wenn du diesen Traum hast. Erinnerst du dich?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fragte Ludevik: »Darf ich ein Tonband mitlaufen lassen?«
    Henry zögerte, willigte dann aber doch ein.
    »Wann fing alles an?«, fragte Ludevik.
    »Ha, wann fing alles an. Vor vielen Jahren, einer kleinen Unendlichkeit. Ich weiß es nicht mehr.«
    »Ich meine deinen letzten Traum.«
    »Vor … ja vor … vor drei Tagen. In der Nacht. Wieder bin ich aufgewacht. Es war wie immer. In meinem Weinkeller. Decke auf dem Boden, und ich saß drauf. Meine Hände waren auch

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