Das Erwachen
bis Sie es mit eigenen Augen gesehen haben. Dies war sein Grundsatz bei allen wichtigen Dingen. Machen Sie sich selbst ein Bild ...« Sie zögerte kurz, ehe sie mit besonderem Nachdruck und einem Seitenblick auf die anderen hinzusetzte: »... kaiserliche Majestät.«
Blut dachte darüber nach und nickte. War die Macht jemals so friedlich weitergegeben worden? War dies Sinistrals Vermächtnis? Er beugte sich vor, und sie trat vertraulich näher.
»Einfach Herr genügt«, sagte Niklas Blut, Herrscher von Hyddenwelt.
»Herr?«
»Gnädigste?«
»Ich kam wegen des Sommers, und der Sommer ist nun fast vorüber. Ich werde abreisen.«
»Sie haben immer selbst über Ihr Leben bestimmt«, sagte er. »Wir würden es uns nicht anders wünschen.«
Sie lachte, und die anderen auch. Möwengekreisch mischte sich in das Gelächter.
»Die Dynastie Sinistral ist erloschen«, verkündete Slew und klopfte mit dem Knüppel des Kaisers auf den Boden, »möge die Dynastie Blut beginnen.«
Sie sahen Blut an und warteten auf seine Antwort.
»Nach reiflicher Überlegung ...«
»Herr?«
»... glaube ich, dass vielleicht ...«
»Ja?«
»... wir, die Bürger Bochums und des Reichs ...«
»Ja ... ja, Herr?«
»... dass wir den Bürgern Brums, diesen tapferen Verteidigern der Freiheit, diesen kühnen Reisenden durch die Jahrhunderte, Kaufleuten und Köchen, Dank schulden.«
Schweigen.
»Würden Sie mir darin nicht zustimmen?«
Slews Griff um den Knüppel des Kaisers wurde ein wenig fester, und der Blick, den er den Höflingen und Beamten zuwarf, dürfte dem einen oder anderen Veranlassung gegeben haben, einen Augenblick innezuhalten und sich darauf zu besinnen, dass das Alte dem Neuen weichen musste.
»Daher«, fuhr Blut ruhig und besonnen fort, »lautet der erste Befehl in meiner Regierungszeit, unverzüglich einen Gesandten nach Brum zu schicken, um unsere freundschaftlichen Grüße und Empfehlungen zu übermitteln und zu sagen ... zu sagen ...«
»Herr, was soll der Gesandte sagen?«
»Dass ich, Blut, Kaiser von Hyddenwelt, Brum einen Besuch abstatten werde, wenn der Herbst kommt, um ... um ...«
»Herr, was wollen Sie tun?«
»Um ihnen die Freiheiten zuzugestehen, die sie vermöge einer hochverräterischen Rebellion bereits besitzen, die wir aber in unserer Großmut nun anerkennen und so weiter und so fort. Von mir unterzeichnet.«
»Ja, Herr.«
»Hat jemand mitgeschrieben?«
Betretenes Schweigen. Niemand hatte.
»Wie es scheint, braucht ein Kaiser einen Schreiber«, sagte er. »Wo sind in unserem großen Reich die besten zu finden?«
»In Brum, Herr«, antwortete Leetha. »Ich bin überzeugt, sie werden uns die Gefälligkeit erweisen und uns einen zur Verfügung stellen.«
»Danke, Gnädigste. Das glaube ich auch.«
In diesen letzten Sommertagen wartete die Erde darauf, dass die Dinge so wurden, wie sie sein sollten, bevor der Herbst kam. Ruhige Sommerabende, überbordendes Leben. Und Trauer über das, was sie getan hatte, um die Toten, über die nächtlichen Tragödien, Dammbrüche, Flutwellen, das Driften in Richtung Weltuntergang.
Und was war mit der Schildmaid? Wann würde sie erwachsen werden?
Leetha hatte sich mit den Ereignissen in Bochum abgefunden, waraber auch froh, wieder fort zu sein. Auf der Suche nach jemandem, den sie nicht finden konnte, erklomm sie in Thüringen einen Hügel und rief zwischen die alten Bäume: »Wo sind Sie, Modor? Warum verstecken Sie sich? Ich habe ihn gesehen! Ich habe ihn wahrhaftig gesehen!«
»Tatsächlich?«, flüsterte der Wind im Dickicht unweit des Gipfels, auf dem die weise Modor lebte.
Weise war sie, aber nicht immer glücklich. Doch wenn Leetha sie besuchte, war das stets eine Freude.
»So, du hast ihn also gesehen?«, fragte sie.
»Ja.«
Sie saßen auf umgestürzten Bäumen und aßen Suppe mit gutem Vollkornbrot.
»Sie sind noch immer unglücklich«, sagte Leetha, die es selten war.
»Ich war es und werde es noch eine Weile bleiben. Es liegt nicht in unserer Natur, allein zu sein.«
»Wo ist der Wita, der Weise?«
»Nicht hier. Er kam, er ging. Er hat zu tun.«
»Wie lange ist er schon fort?«
»Jahrzehnte, glaube ich«, antwortete sie und setzte, um von diesem schmerzlichen Thema abzulenken, hinzu: »Du hast also deinen Sohn gesehen?«
»Wie lange schon, Modor?«, beharrte Leetha.
Die Modor hatte noch nie so traurig oder so einsam gewirkt.
»Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal seine Berührung gespürt habe. Ich vermisse ihn in jedem
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