Das Erwachen
Slew.
»Zeigen Sie Bruder Slew die Regale im unteren Lesesaal«, wies Brif den Gehilfen an. »Und bitten Sie Bibliothekar Thwart, ihm jede Hilfe und Anleitung zu geben, die er benötigt.«
Slew blickte beflissen und treuherzig.
»Sind die Bücher im unteren Lesesaal neueren oder älteren Datums?«, fragte er.
»Älteren«, antwortete Brif knapp.
»Ach, dort zu sitzen, wo andere Gelehrte, bedeutendere als ich, gesessen haben ... Vielleicht sogar Master Stort, das Wunderkind unserer Zeit!«
»Wunderkind?«, wiederholte Brif skeptisch. »Wie auch immer, ich kann Ihnen jedenfalls sagen, dass er niemals sitzt, er ist dazu gewissermaßen außerstande. Aber nun muss ich ...«
Er ließ Slew stehen, froh, seine Zeit nicht damit vertun zu müssen, dem Geplapper eines drittklassigen, fahrenden Gelehrten zu lauschen.
Slew sah ihm nach, gespielte Ehrfurcht in den Augen, Abneigung im Herzen.
Tatsächlich war die Ehrfurcht nicht so schwer zu heucheln, denn als Brif fort war, kam Slew die ehrwürdige Bedeutung und Geschichtsträchtigkeit dieser verstaubten, düsteren, verwinkelten Räumlichkeiten zu Bewusstsein.
Auf der unteren Ebene fand er sich vor einem langgestreckten Raum mit hoher Decke und Wänden aus behauenem Naturstein wieder. Auf der einen Seite stand ein Tisch, und daran saß ein blasser, hagerer Bibliothekar und las, die Brille in die Stirn geschoben, in einem Dokument.
Auf der anderen Seite führten bogenförmige Durchgänge in Korridore und Räume unterschiedlicher Art, die Regale mit Büchern und Handschriften beherbergten. Einige waren offen, andere mit Gittertüren verriegelt, an denen schwere Vorhängeschlösser hingen.
»Ja?«
»Bibliothekar Thwart?«
»Ja.«
»Master Brif schickt mich.«
»Ja?«
»Er hat gesagt, Sie würden mir helfen und mich einweisen.«
»Thema?«
»Die Jahreszeiten.«
»Genauer.«
»Sommer.«
»Noch genauer.«
»Nun ja ...«
»Tage? Daten? Fauna? Flora? Alte Geschichte, neuere Geschichte? Klimatologische Aufzeichnungen? Bedeutung?«
»Alte Geschichte.«
»Englische oder estrange?«
»Estrange?«
»Althyddisch für ausländisch.«
»Englische und vielleicht ausländische. Ich hätte da ein paar Titel ...«
»Ich höre.«
Während dieses knappen Austauschs hatte Bibliothekar Thwart weiter in seinem Dokument gelesen. Jetzt hielt er inne und musterte Slew.
»Sie sind Mönch«, sagte er.
»Ja. Ein Pilger, ein bescheidener fahrender Gelehrter.«
»Ah ja, auf der Suche nach Wahrheit und Weisheit durchschreiten Sie gewissermaßen alle Höhen und Tiefen. Welche Titel?«
Slew beschloss, deutlich zu werden. »Natürlich muss ich mir Pluvars Phasen ansehen, und Hindricks Lenz sowie Das Buch des üppigen Sommers ...«
»Ja nun, Sir ...«
Slew rasselte noch ein paar weitere Titel herunter, von denen in der Bochumer Bibliothek bekannt war, dass Stort sie bei seinen Forschungen verwendet hatte. Ihm war bewusst, dass einige erheblich seltener waren als andere.
Der Gehilfe war beeindruckt. Er wurde unruhig und versuchte Slews sachkundigen Redefluss zu stoppen und ihm zu erklären, dass ... nun ja, der Zugang ... und der Umstand, dass Master Brif ihn ... nun ja ... das bedeute nicht notwendigerweise, dass er ... nein ... aber ... nun gut ... vermutlich doch.
»Ich würde gern mit Meisters Monolog über die irdischen Jahreszeiten beginnen«, sagte Slew bestimmt.
»Davon haben wir vier Exemplare«, erklärte Thwart.
»Ich meine das Original mit den handschriftlichen Randbemerkungen von Skurt.«
»Aber ...«
»Sie verfügen doch über Handschuhe, nehme ich an?«
»Ja, allerdings.«
Sie stiegen eine mittelalterliche Wendeltreppe aus Stein hinab, vorbei an verriegelten Türen, und gelangten in ein weiträumiges Gewölbe, in dessen trockener Luft bei optimalen, kühlen Temperaturen die bedeutendste Schriftensammlung über die vier Jahreszeiten von ganz Hyddenwelt lagerte, offen in Regalen, verborgen in Kästen oder in Form alter Schriftrollen, alle in gewölbten Gängen und ebenfalls hinter Gittertüren, die mit Vorhängeschlössern gesichert waren.
»In den offenen Regalen findet sich der Kernbestand, wie man ihn wohl nennen könnte. Hier ist immer ein Gehilfe zur Stelle, der Ihnen helfen kann.«
»Sie ...?«
»Ich bin nur einer von mehreren.«
»Und die Sonderbestände?«, fragte Slew.
»Das kommt darauf an. Am besten, Sie sagen, was Sie möchten.«
»Wie soll ich denn nach etwas fragen, von dem ich gar nicht weiß, dass Sie es haben?«
»Das nennt man dann wohl
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