Das Erwachen
dass er mein Vater ist.«
»Sondern ...?«
»Geh wieder zu Evelien. Bald graut der Tag, sie wird Verlangen nach dir haben, und hinterher wirst du Schlaf brauchen. Sie wird nicht mehr viel Gelegenheit haben, sich an dir zu erfreuen.«
»Warum? Gehe ich denn fort?«
»Ich glaube, ja. Früher, als du sagst.«
»Nicht ich, du bist eine scharfe Beobachterin, Machthild!«
Bei ihrer Ankunft schwirrte Brum von Gerüchten über den Stein des Frühlings, und in einem Punkt stimmten alle überein: Der bekannte Gelehrte Bedwyn Stort habe ihn gefunden, und zwar auf dem Waseley Hill, wie seit langem prophezeit worden war.
Ebenfalls gewiss schien, dass der Rat der Stadt sich der immer lauter werdenden Forderung der Bürger, den Stein öffentlich auszustellen, und sei es nur für kurze Zeit, nicht mehr lange würde verschließen können.
Die Gespräche, denen Slew lauschte, ließen zudem einen Schluss zu: Stort weilte gegenwärtig nicht in der Stadt. Er war in irgendeiner Mission unterwegs, die mit dem Stein zu hatte.
Somit stellte sich die Frage, ob er den Stein mitgenommen hatte. Slew hielt es für unwahrscheinlich, und das kam ihm zupass.
Die Stadt war in diesem Sommer mit Pilgern so überlaufen, dass es bei weitem nicht genug Unterkünfte gab.
Pilger, selbst die älteren, waren genötigt, im Freien zu nächtigen, entweder auf den Plätzen in der Stadt oder draußen vor ihren Mauern, wo sie dem Regen, dem Hochwasser und den Ratten ausgesetzt waren.
So etwas entsprach nicht Slews Lebensart. Mochten sich die anderenin die Verhältnisse fügen, er tat es nicht. Dem Zweck seines Kommens war nicht damit gedient, dass er sich in Entbehrung übte und ein unbequemes Leben führte, von seinen Bedürfnissen hinsichtlich Evelien und Machthild ganz zu schweigen.
»Überlasst das mir«, sagte er.
Schon bald hatte er in Erfahrung gebracht, dass Stort, wenn er in der Stadt weilte, gern in einem Gasthaus namens Muggy Duck in Digbeth speiste, das von einer Bilgenerin namens Ma’Shuqa geführt wurde. Wie sich herausstellte, war sie eine gute Freundin des Gelehrten und zuweilen auch seine Beschützerin. Slew stellte nie direkte Fragen, da er sich nicht verraten wollte. Er zog es vor, unbemerkt zu kommen und zu gehen, obgleich ein Mann mit seiner kräftigen Statur, seinem selbstsicheren Auftreten und seiner blendenden, melancholischen Erscheinung schwer zu übersehen war.
Slew trank gewöhnlich nicht, doch er wollte nicht auffallen, und so trank er in Maßen und genug, um nicht geizig zu erscheinen. Er aß üppig und gab großzügig Trinkgeld.
Er freundete sich mit Einheimischen an, die alle von sich behaupteten, sie seien mit dem berühmten Stort gut bekannt, was in Wahrheit jedoch auf keinen zuzutreffen schien. Schließlich erfuhr er von einem Knüppelmann, was er wissen wollte: wo Stort wohnte.
Er hatte viel herausgefunden und beschloss aus Gründen der Vorsicht, das Weitere auf den nächsten Tag zu verschieben, was bedeutete, dass er mit seinen neuen Freunden eine zweite unbequeme Nacht neben dem Stadtgraben zubringen musste, den beiden Frauen, die ebenso enttäuscht wie er im Dunkeln lagen, so nah und doch so unerreichbar fern.
Tags darauf stattete er der schmalen Gasse, in der Stort wohnte, einen Besuch ab.
Seine List bestand darin, an Türen zu klopfen und nach einer Unterkunft zu fragen. Er sagte, ein Freund sei auf dem Weg nach Brum verletzt worden und benötige eine weichere Lagerstatt, als Kopfsteinpflaster und nackte Erde zu bieten imstande seien.
Die Häuser waren klein und die Aussichten, hier eine Unterkunft zu finden, gering, zumal andere vor ihm auf die gleiche Weise ihr Glück versucht hatten.
Aber er war Slew, und nicht umsonst war er Schattenmeister. DieMacht seines Blicks verwirrte Männer wie Frauen. Selbst wenn sie eigentlich nein sagen wollten, sagten sie ja, ehe sie wussten, wie ihnen geschah.
In erster Linie aber wollte er Auskünfte. Zimmer waren nur eine willkommene Dreingabe.
Erst als er von Storts Nachbarn im hinteren Teil der Gasse alles in Erfahrung gebracht hatte, was es in Erfahrung zu bringen gab, näherte er sich dem Haus, mittlerweile genau im Bilde, wer ihm öffnen würde.
»Ja?«
»Die barmherzige Schwester Cluckett, nehme ich an?« Er lächelte, und etwas in ihrem imposanten, respekteinflößenden Busen ließ sich erweichen.
»Falls Sie Master Stort zu sprechen wünschen ...«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, ich ... wir möchten den großen Mann, Ihren Dienstherrn, keinesfalls in
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