Das Erwachen
seinem Schreibtisch, und deine Mom stellt sie in ihr Zimmer ...«
Judith lernte auf die eine wie die andere Weise, und sie lernte schnell. Was ihr fehlte, waren Freunde. Arthur, mittlerweile Experte auf dem Gebiet der kindlichen Entwicklung, warnte: »Sie braucht Freunde, wenn sie Sozialverhalten erlernen soll, sonst wird sie womöglich kriminell.«
»Schon«, murmelte Katherine, »aber selbst wenn sie jemals gefasst werden sollte, was ich bezweifle, weiß ich nicht, wessen Justiz für eine Schildmaid zuständig ist ...«
Der Ausflug auf den White Horse Hill war ein Wendepunkt in Judiths kurzem Leben. Margaret bedauerte, dass sie nicht mitkommen konnte. Sie entschuldigte sich damit, dass sie sich abgespannt fühle und darauf freue, das Haus eine Weile für sich zu haben.
»Sie ist nicht nur abgespannt«, sagte Arthur, »sie hat auch Schmerzen in den Armen und Beinen. Sie geht schon lange nicht mehr spazieren und muss Tabletten gegen Bluthochdruck nehmen, was sie allerdings nur tut, wenn ich darauf achte.«
Sie erklommen den Hügel recht langsam, doch der steile Anstieg war nicht der Grund, warum sie nur stockend vorankamen. Es war der Umstand, dass sie fremden Menschen begegneten, deren Anblick und Stimmen Judith irritierten. Als sie oben ankamen, versteckte sie sich hinter Jacks Beinen und spähte zu ihnen hinüber, besonders zu den Kindern ihrer Größe.
Später nahm sie seine Hand und wagte sich etwas näher heran.
»Sie möchte mit ihnen Bekanntschaft schließen, weiß aber nicht, wie«, flüsterte Katherine.
»Soll ich ...?«, begann Jack, der die Dinge wie immer vorantreiben wollte.
»Sie soll es auf ihre Weise tun.«
Arthur setzte sich ins Gras und zog keuchend eine altmodische Thermoskanne mit Tee hervor.
Judith setzte sich zu ihm.
»Das Pferd«, sagte er, »ist da drüben, hinter der Kuppe. Wir sind beim Aufstieg daran vorbeigekommen, aber es war nicht deutlich zu sehen.«
»Wo?«, fragte sie.
»Zeigt ihr es ihr«, sagte Arthur, der nicht aufstehen wollte.
»Nein, du«, sagte Judith.
»Na schön ...«
Seit einem oder zwei Tagen war sie verträglicher, da sie weniger Schmerzen hatte, und so machte es ihm nichts aus.
Während er mit Judith das weiße Pferd erkundete, schlangen Jack und Katherine die Arme umeinander und nutzten den Augenblick, den sie für sich hatten.
»Unser besonderer Platz«, sagte sie.
Im Sommer vor zwei Jahren, als sie ihre kurze Kinderfreundschaft aufgefrischt und sich ineinander verliebt hatten, waren sie oft vom Haus hier heraufgestiegen. Jetzt drehten sie sich um und blickten zur anderen Hügelseite. Dort verlief der Kammweg, jene alte prähistorische Straße, die von Avebury zwanzig Meilen nach Westen führte, über die Hügel ostwärts zu den Chiltern Hills und vor dort hinauf nach East Anglia, wo sie in eine andere Straße mündete, aber Teil des alten Wegenetzes blieb.
»Wir haben einander versprochen, dass wir diesen Weg eines Tages bis zum Ende gehen«, sagte sie.
»Das werden wir auch«, murmelte er. »Irgendwie, das fühle ich ...«
Er fühlte es mit jeder Faser seines Herzens. Eines Tage würde er mit Katherine und Judith ... irgendwie ... es musste sein. Manche Reisen waren von den Sternen vorherbestimmt.
»Ja, das werden wir«, sagte er noch einmal.
Sie blickten wieder zu Judith, die gerade mit Arthur zankte.
»Das ist kein Pferd, das sind weiße Linien. Wie bei einem Bild.«
»Es ist ein Bild von einem Pferd«, sagte Arthur.
»Wo?«, bohrte sie weiter.
Er sah sich hilflos um, denn sie hatte recht. Es war zu groß und zu abstrakt, um es vom Boden aus zu erkennen.
»Hier auf der Hinweistafel ist ein Bild davon aus der Luft«, sagte Jack.
Judith lief zu ihm, und er nahm sie hoch, damit sie es sich ansehen konnte.
»Das ist ein Bild von einem Pferd«, erklärte er. »Von diesem Pferd.«
»Wo?«, fragte sie zum dritten Mal, denn ihre Fantasie reichte nicht aus, um in den Linien etwas so Konkretes wie die Beine, den Kopf oder den Leib eines Pferdes zu erkennen.
Jack ergriff ihre Hand und legte ihren Zeigefinger auf das Augedes Pferdes. Es hatte eine besondere Bedeutung für ihn, denn an dem Tag, an dem Katherines Mutter Clare gestorben war, war er bis zu dem Auge hinaufgeklettert und dort der Friedensweberin Imbolc, der legendären Schwester der Schildmaid, begegnet.
»Das ist das Auge des Pferdes«, sagte er. »Und wir wollen uns jetzt zusammen darauf stellen, obwohl sich das eigentlich nicht gehört.«
Er führte sie den steilen Grashang
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