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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Messung nur eine leicht abweichende Position zu seiner Schätzung ergab – jedoch bezweifelte ich, daß uns das noch etwas bringen sollte. Während der gesamten Zeit schlief Harpun im Zelt. Schließlich ging ich zum Ufer, das zum Teil zugefroren war, setzte mich auf einen der vielen zerklüfteten Felsen und lauschte dem Knacken der Eisdecke. Ich starrte über den Fjord und zum Bergmassiv empor. Wir konnten unmöglich umkehren. Unsere einzige Möglichkeit bestand darin, das Gebirge zu erklimmen und über das Hochplateau auf der anderen Seite des Fjords zur Meeresküste zu marschieren. Tief in Gedanken versunken lenkte mich ein grauenvolles Grunzen ab.
    Nur unweit von mir entfernt wurde eine Horde junger Sattelrobben von einem häßlichen Walroß vertrieben. Die Eisdecke in Ufernähe brach, und die Tiere tauchten in die Fluten. Zurück blieb das gewaltige Vieh. Es robbte auf mich zu, wobei es einen unglaublich abstoßenden Anblick bot. Kopf und Hals waren von unzähligen Falten übersät, und von der Schnauze hingen lange, dicke Borsten, die einem Schnurrbart glichen. Doch das Fürchterlichste waren die gelben Eckzähne und die kleinen, blutunterlaufenen Augen, die mich drohend anblickten. Schließlich bäumte sich das Untier auf. Obwohl mich schauderte, holte ich mit langsamen Bewegungen mein Tagebuch aus der Manteltasche. Während ich eine Zeichnung von dem Koloß anfertigte, verlor er das Interesse an mir und wälzte sich entlang des Ufers in die andere Richtung.
    »Ja, so ein häßlicher Kerl bist du!« rief ich ihm nach und korrigierte die Skizze mit wenigen Strichen. Danach machte ich einige Notizen und verfaßte einen weiteren Vers, der mir spontan einfiel. Darin bezeichnete ich das Ende des Fjords als Walroßbucht. Als ich das Wort niederschrieb, erfaßte mich ein neuerlicher Schauder. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß uns diese Bucht zum Schicksal werden könnte – entweder stießen wir hier auf etwas Geheimnisvolles, oder sie würde uns zum Verhängnis werden.
    Das Schlagen von Flügeln riß mich aus den Gedanken. Nur einen Steinwurf von mir entfernt landete die gewaltige Schneeeule auf einem von der Brandung glatt geschliffenen Felsen, der zur Hälfte im Schatten lag. Als meide sie die Sonne, hopste sie ungelenk auf die dunkle Seite. Sie hinkte. Ihr linkes Bein schien gebrochen und schlecht verheilt zu sein. Schließlich saß sie leicht nach vorn übergebeugt, Füße und Flügel von lockerem Gefieder umhüllt, auf dem Stein und blickte in meine Richtung. Da sah ich es! Mein Herzschlag setzte für einen Moment aus. Die Augen des Tieres waren blind, nichts weiter als grau verschleierte Flecken. Trotzdem starrte die Eule in meine Richtung, als wisse sie genau, daß ich hier saß und sie beobachtete. Die Gelegenheit war günstig, eine weitere Skizze anzufertigen, doch irgendwie wollte ich den Augenblick nicht dadurch zerstören. Fasziniert betrachtete ich das Tier. Als sei es sich der Gefahr bewußt, die von uns Menschen ausging, bewegte es den Kopf hin und wieder um eine Dreivierteldrehung, um die Geräusche aufzufangen, die von den Männern herüberdrangen. Der Anblick besaß etwas Unheimliches, und plötzlich kam mir der absurde Gedanke, daß nicht dieses blinde Tier in Gefahr war, sondern wir.
    »He! Ho!« Hansens Geschrei hallte durch die Bucht.
    Sogleich schwang sich die Schneeeule in die Luft, wo sie im nächsten Augenblick verschwand.
    Hansen wedelte aufgeregt mit den Armen. »Die Männer haben einen Einstieg in die Wand gefunden!«
    Ich sprang auf und lief ihm entgegen.
    Der Walfänger reichte mir ein Fernglas. »Schau!« Er zeigte auf eine bestimmte Stelle. »Die Männer haben in der Steilwand eine Route aus Serpentinen ausgekundschaftet. Die können wir sogar mit den Hundeschlitten bezwingen.«
    Mitten im Fels bewegte sich etwas …Vanger! Nichts weiter als ein schwarzer Fleck inmitten einer schneebedeckten Fläche. Dann sah ich den Weg. Er schmiegte sich in grauen Farbtönen ins Massiv und schlängelte sich quer durch die Felswand empor. Eine Laune der Natur, die bestimmt nicht von Menschenhand geschaffen worden war.
    »Vanger schätzt den Marsch zum Plateau auf drei Kilometer.« Hansen keuchte vor Aufregung. »Was hältst du davon?«
    Ich rechnete nach. »Das bedeutet eine Steigung von etwa zwölf Prozent.«
    »Riskant, aber machbar.« Hansen grinste.
    »Eine Herausforderung für die Hunde«, beschwichtigte ich seine Euphorie. Andererseits blieb uns keine Alternative, wollten wir nicht ewig in

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