Das Eulentor
anderen – aber schließlich hatte ich es so gewollt. Ich wäre nicht eher zur Ruhe gekommen, hätte ich die Strapazen dieser Eiswanderung nicht am eigenen Leib gespürt. Ich überlegte, ob auch Scott und Amundsen von ähnlichen Zweifeln geplagt wurden. Ereilte sie am Südpol das gleiche Schicksal? Wieder dachte ich an meinen Vater, der mich vor dieser Reise gewarnt hatte. Ich sei nicht geschaffen für den rauhen Norden. Mein Platz sei an seiner Seite, mit einem Stethoskop in der Hand und nicht mit der Leine eines Schlittenhundes. Zwar wußte ich nicht, ob ich mich tatsächlich für derlei Abenteuer und Expeditionen eignete, doch eines wußte ich mit absoluter Bestimmtheit: Ich konnte nicht das Leben eines Arztes führen – das war mir bereits während des Studiums klargeworden. Es war eine Sache, als Fünfjähriger auf dem Schoß des Vaters zu sitzen, seinen und meinen Herzschlag mit dem Stethoskop zu hören – der eine dumpf und schwer, der andere hell und aufgeregt –, ihm bei der Arbeit zu assistieren, Mullbinden aufzurollen, Schüsseln zu waschen oder manchmal sogar Injektionsnadeln aufzuziehen. Es war aber eine andere Sache, in die Fußstapfen von Doktor Erich Berger zu treten, dem brillanten Chirurgen, der an der Wiener Universität lehrte. Sie waren eindeutig zu groß für mich, und vor allem führten sie mich in eine Richtung, die ich nicht selbst bestimmen konnte. Ich brauchte ein eigenes Leben – und die Suche danach führte mich so weit wie möglich von meinem Vater fort.
Langsam verblaßten meine Gedanken, und ich wurde mir wieder des Schnees und der Kälte bewußt, die mich umgaben. An diesem Tag gerieten wir zum ersten Mal in dichten Eisnebel, weshalb wir nur weniger als fünfzehn Kilometer schafften. Abends im Zelt, als Hansen und die anderen noch immer um den Verlust des Kompasses trauerten, beschäftigte mich eine andere Sache: Harpuns angstvoller Blick und der panische Ausdruck seines Gesichts. Es waren die Augen eines Menschen, der langsam den Verstand verlor.
*
Als wir zu Mittag des nächsten Tages nach zwölf Kilometern harten Fußmarsches endlich das Ende des Fjords erreichten, wo schlagartig der Nebel aufklarte, traf uns die Ernüchterung so unbarmherzig wie der Schlag eines Hammers. Ich konnte es kaum glauben, wollte es nicht begreifen. Vor uns lag ein hohes Bergmassiv, das steil ins Meer abfiel und uns den Weg versperrte. Im Angesicht des Gletschers wirkten wir mitsamt unseres Schlittengespanns so winzig wie Tintentropfen auf dem weiten Eis. Mit offenem Mund starrten wir vom Fuß des Berges zum Gipfel, der von gewaltigen Firnblöcken übersät war. In dieser Sackgasse gab es keine Möglichkeit, um auf die andere Seite des Fjords zu gelangen, wo wir bis zur Meeresmündung zurückgehen wollten. Die Felswände ringsum ragten bestimmt an die fünfhundert Meter empor. Es schien, als blicke man vom Grunde einer Gletscherspalte direkt in den Himmel. Die verdammte Schlucht bot überall das gleiche entsetzliche Bild. Sollte hier unsere Reise enden? All die Anstrengung, die Entbehrung und das Leid umsonst? Dieselbe Enttäuschung sah ich in den Gesichtern der Männer. Vanger und Christianson schauten mit offenem Mund die Klippen hinauf, während sich Harpun umdrehte und den Weg zurückstarrte, den wir gekommen waren. In diesem Moment wußte ich, was in seinem Kopf vorging. In der Zwischenzeit begann Hansen, seine Instrumente auszupacken. Als seien noch nicht genug Hiobsbotschaften über uns hereingebrochen, maß er die Temperatur.
»Minus dreiunddreißig Grad«, murrte er.
Damit hatten wir den bisher kältesten Punkt der Reise erreicht. Da mir im Moment keine andere Alternative einfiel und ich die Männer ablenken mußte, entschied ich, das Lager im Tal aufzuschlagen. Während wir das Zelt aufbauten, kreiste eine Schneeeule in der Bucht. Der Größe nach zu urteilen war es dasselbe Tier, das Tage zuvor unsere Schlachtung der Robbe beobachtete hatte. Möglicherweise folgte es uns. Manchmal verschwand die Eule in den Wolken, dann stieß sie wieder unvermutet daraus hervor, um sich entlang der Steilklippe auf das Meeresniveau fallen zu lassen. Da das Tier nicht kreischte, fiel es nur mir auf – die anderen waren zu sehr mit dem Aufbau des Lagers beschäftigt.
Nachdem das Zelt stand, wollte Hansen unsere genaue Position festlegen. Er sandte Christianson und Vanger mit Skiern aus, um die Umgebung zu erkunden. Die Männer waren beschäftigt, und der Walfänger schien zufrieden, da die
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