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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Entscheidungen trafen, die über Leben oder Tod bestimmten, mußten sie eine gewisse Distanz zum Tod aufbauen. Andererseits wurden sie von ihren Schuldgefühlen und Gewissensbissen aufgefressen. Das war der Preis, den man zahlen mußte, wollte man kranke Menschen heilen. Mein Vater war derart abgebrüht – ich konnte es nicht. Auch deshalb hatte ich mich entschieden, meine Arztkarriere an den Nagel zu hängen. Doch nun hatte mich der Grund, vor dem ich geflohen war, eingeholt. Ein Mann war tot – ich hatte ihn sterben lassen. Das Ziel der Expedition, eine Karte für den Verlag anzufertigen, die Arztpraxis in Wien, meine Freunde und sogar Kathi Bloom waren nebensächlich geworden, wie durch einen dichten Nebel in meiner Erinnerung verblaßt. Alles lag so weit entfernt, war mir gleichgültig geworden, denn an diesem Morgen hatte sich so vieles verändert, und ich würde nie wieder das Leben führen können wie zuvor.
    Hansen legte mir die mächtige Hand auf die Schulter. »Nach dem Frühstück beginnen wir mit dem Aufstieg.«
    »Ich kann nichts essen.«
    Den anderen erging es ähnlich. Nachdem wir Stunden später alles auf den Schlitten verstaut hatten, brachen wir auf. Hansen ging voran, gefolgt von Vanger und Christianson. Ich stapfte als Letzter hinter den Schlitten her. Nach der ersten Kehre sah ich zur Bucht hinunter. Von unserem Lagerplatz waren nur noch niedergetrampelter Schnee und eine rauchende Feuerstelle übrig. Ein Kreischen erinnerte mich an die blinde Schneeeule. Mit aufgerissenem Schnabel saß sie auf Harpuns Steingrab, sträubte ihr Gefieder und stieß mit erhobenen Flügeln einen Warnruf aus, als handle es sich um ihre Bucht, deren Ruhe wir gestört hatten. Je weiter wir das Felsmassiv erklommen, desto lauter wurden ihre Drohgebärden, bis ich sie schließlich aus den Augen verlor. Je höher wir kamen, desto mehr nahm auch das Heulen des Windes zu.
    Während ich bergauf marschierte, mechanisch einen Schritt vor den anderen setzte, empfand ich keine Kälte. Ich schwitzte sogar unter dem Pelzmantel. Der Hauch stand wie eine dichte Nebelwolke vor meinem Mund. Doch jedes Mal, wenn kalter Wind aufkam, mußte ich durch den Kragen Luft holen, da mir der Rachen zu zerspringen drohte. Ich wollte mir Mut machen, indem ich mir einredete, die Lage würde sich bessern, sobald wir erst einmal oben angelangt waren. Doch als wir das Plateau erreichten, verschlimmerte sich das Wetter. Der verfluchte Wind wirbelte den Schnee meterweit empor. Meine Augen begannen zu tränen. Es schmerzte, als hätte ich Sand unter den Lidern. Das war der Beginn der Schneeblindheit. Dazu kamen die unerträglichen Kopfschmerzen, die mich seit dem Morgen quälten.
    Mit Hilfe des kleinen Reservekompasses marschierten wir am Rand des fünfhundert Meter tiefen Abgrunds über die Eisdecke. Als das Schneegestöber so dicht wurde, daß wir nur noch eine vage Ahnung hatten, wo sich die Sonne befand, blieb Hansen stehen. »Es hat keinen Sinn!« rief er nach hinten. »Die Tiere sind erschöpft. Wir sollten unser Lager aufschlagen.«
    Dankbar sank ich auf die Knie. Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich in die Richtung, wo ich die Steilklippe vermutete. Irgendwo dort unten befand sich der Fjord und weiter draußen am Meer Kapitän Andersons Skagerrak auf ihrer Route zwischen Norwegen und Grönland. Mittlerweile sehnte ich den Augenblick herbei, an dem ich wieder die Schiffsplanken betreten würde.

 
VIERTES KAPITEL
     
     
    A m nächsten Morgen begannen wir unseren Marsch über das Plateau. Zu diesem Zeitpunkt, dem achten Tag auf der Insel, hatten wir erst hundertfünfzehn Kilometer zurückgelegt – nicht einmal ein Vierzehntel der gesamten Strecke. Noch dazu war eingetreten, was nicht einmal Vanger, der alte und erfahrene Norweger, für möglich gehalten hätte: Die Temperatur war um einen weiteren Grad gefallen.
    Da das Schneegestöber immer noch tobte, seilten wir uns an und gingen mit größter Vorsicht weiter. Hansen übernahm die Führung mit Harpuns Schlitten und Samson als Leithund. Nach jedem Schritt tastete er die Gletscherdecke mit den Skistöcken ab und ermahnte uns, unbedingt im Gänsemarsch zu gehen. Durch das Schneetreiben sah ich, wie die Hunde bis zu den Sprunggelenken im Schnee einsanken. Das Gelände war derart unwegsam, daß Hansen es die Teufelsebene nannte. Das Gebiet vor uns war von Gletscherspalten durchzogen und von mächtigen Eisblöcken übersät. Stellenweise klang der Boden hohl, was mir eine Heidenangst

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