Das Eulentor
Gesichtsausdruck sah ich, daß es ihn auch ein wenig mitnahm. »So etwas wird nicht mehr vorkommen«, murrte er. »Wir dürfen kein weiteres Tier einbüßen.«
Jedoch wußte ich nicht, ob er aus tiefer Überzeugung sprach oder mich nur zu beruhigen versuchte. Um ein Uhr mittags zogen wir trotz des Sturms weiter durch die eintönige Landschaft. Wie Hansen prophezeit hatte, erreichten wir bald die Mündung des Hornsundet-Fjords. Von da an ging es entlang der Küste landeinwärts. Meine Hoffnung, das Wetter könne sich im Fjord bessern, wurde von schrecklichen Stürmen zunichte gemacht. Nach fünf Stunden und einer Strecke von achtzehn Kilometern waren wir restlos erschöpft. Ich wußte nicht, woher ich die Energie nahm, das Zelt zu errichten, was mich die letzte Kraftreserve kostete. Allerdings ging es nicht nur mir so miserabel. Harpun spuckte Blut. Die anderen bemerkten es nicht, doch mir blieb der rote Auswurf seines Hustens nicht verborgen. Zudem war seine Nase weiß – erstes Anzeichen einer schlimmen Erfrierung. Falls der verrückte Kerl mit seinem eigenen Leben so umging wie mit dem seiner Hunde, standen uns böse Zeiten bevor. Ich schickte ihn ins Zelt, um sich die Nase zu reiben, damit das Blut zurückkehrte. Darüber hinaus hatte er auch noch blasse Froststellen an den Wangen, die nicht so leicht verschwinden würden.
Nach dem Abendessen betrachtete ich Harpuns geschwollene Füße, die eindeutig auf Skorbut hindeuteten. »Du hast Blut gespuckt«, sprach ich ihn an.
Plötzlich wurde es still im Zelt.
Ich wiederholte meine Aussage, doch der Hundeführer wehrte ab. Seine Ignoranz brachte mich zur Raserei. Schließlich kroch ich zu ihm hinüber.
»Öffne den Mund!« Ohne seine Reaktion abzuwarten packte ich ihn gewaltsam am’ Kiefer. Der Geruch von Alkohol schlug mir entgegen. Harpuns Schleimhäute und das Zahnfleisch sahen gräßlich aus. »Anzeichen von Skorbut!«
»Mir geht es gut.« Wieder traf mich der eisige Blick des Norwegers, der mir einen Schauer über den Rücken jagte – wie schon einst an Bord der Skagerrak.
Aber was sollte ich tun? Konnte ich den sturen Mann zwingen, seine Lebensweise zu ändern? Er trank zu viel und mußte sich bereits seit Monaten falsch ernähren – nun rächte sich sein Verhalten. Aber nicht nur das. Er war abgemagert und sah krank aus, mit tiefliegenden Augen und einem käsig fahlen Teint auf der Stirn. Irgend etwas stimmte nicht mit ihm. Ich warf Hansen einen besorgten Blick zu. Ihm und den anderen war Harpuns Zustand nicht entgangen. Während sie miteinander redeten, saß Harpun schweigend abseits. Die Tatsache, daß es den anderen nicht viel besser ging, relativierte jedoch vieles. Christianson, Vanger und ich hatten große Blasen, die wir aufschnitten und das darin enthaltene Wasser ausdrückten. Vor dem Schlafengehen legten wir uns nasse Umschläge um die Füße.
In dieser Nacht war ich zu müde, um auch nur eine kurze Notiz in mein Tagebuch zu schreiben. Ich wollte schlafen, nichts als schlafen, lag aber trotzdem die halbe Nacht wach. Während die Zeltwände im Wind flatterten, kreisten meine Gedanken darum, welche Ungewißheit der nächste Tag mit sich bringen würde, da in dieser Abgeschiedenheit jede Stunde neue Bedrohungen heraufsteigen konnten.
DRITTES KAPITEL
M ittlerweile schrieben wir den fünfzehnten November. Der Sturm hielt an und verstärkte die Wirkung der Kälte bis zur Unerträglichkeit. Bei minus zweiunddreißig Grad stach der Schnee wie Glassplitter auf den Wangen. Wir kamen nur langsam voran. Harpun stapfte neben mir durch den Schnee. Sein Gang war unsicher. Immer öfter blieb er am Weg zurück, fiel mehrmals hin und versuchte, auf allen vieren zu kriechen. Dann gerieten wir auf eine Eisplatte. Als er erneut stürzte und ich ihn nicht rechtzeitig fangen konnte, zerbrach der große Kompaß an seinem Gürtel. Da Hansen die Trümmer nicht mehr reparieren konnte, ließen wir das unnötig gewordene Gerät zurück. Obwohl wir alle wußten, was das bedeutete, verlor niemand ein Wort darüber. Den gesamten Tag herrschte eisiges Schweigen, das ab und zu vom Winseln der Hunde unterbrochen wurde oder von Stiefeln, die krachend die Schneekruste durchbrachen.
Während des Marsches fand ich Zeit, über vieles nachzudenken: über meine Eltern, Kathi Bloom, meine Zukunft und den Sinn dieser Expedition, den ich langsam in Frage stellte. Wieder kamen mir die Erzählungen meines Großvaters in den Sinn, bruchstückhaft, eine Episode nach der
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