Das Evangelium nach Satan
dieselbe Stelle geschoben. Gegen die Mauer gestemmt, schiebt sie ihn so weit fort, bis sein Boden die Rillen vollständig verdeckt. Dann tastet sie sorgfältig die Mauerfläche ab, vor der er gestanden hat. Schmerzhaft spürt sie den rauen Stein unter ihren Händen. Dann aber kommt sie an eine Stelle, die glatt zu sein scheint. Sie holt eine Kerze und sieht genau hin. Inmitten des scharfkantigen und kalten Granits ist jene Stelle eben und wirkt bei der Berührung fast lauwarm. Sie klopft darauf. Es klingt hohl. Wohl ein gekalktes Stück Holz, das eine Öffnung verschließt. Sie zerrt es mit den Fingerspitzen heraus und stößt auf eine Nische, etwa so groß wie einer der Quader. Vermutlich hat die alte Nonne diese Vertiefung mit unendlicher Geduld aus der Mauer herausgekratzt und die Gesteinskrümel unauffällig im Klosterhof verteilt. Wie viele Nächte stummer Arbeit sie das gekostet haben mochte?
Nach einigem Umhertasten stoßen Marias Fingerspitzen auf etwas, das sich wie eine lederne Hülle anfühlt. Sie holt sie heraus, öffnet die Kordel, die das Bündel zusammenhält, und entdeckt brüchige Pergamente mit zerfransten Rändern. Sie legt sie auf den steinernen Tisch und rückt den Kerzenleuchter näher heran. Dann setzt sie sich auf den Schemel und liest die mit dem Gänsekiel geschriebenen Buchstaben, die vor ihren Augen zu tanzen scheinen.
10
Das erste Pergament trägt das Datum »11. Juli im Jahr des Unheils 1348«. Das war das Jahr des Schwarzen Todes. Es ist ein Geheimbericht, den ein Generalinquisitor namens Thomas Landegaard an Papst Klemens VI. nach Avignon geschickt hat. Dieser hatte Landegaard beauftragt, ein Massaker zu untersuchen, zu dem es während der Pest-Epidemie im Felsenkloster Unserer Lieben Frau vom Mons Cervinus gekommen war, wie das Matterhorn damals noch hieß.
In Landegaards Bericht heißt es, in der Nacht vom 14. auf den 15. Januar 1348 hätten marodierende Reiter das abgeschieden inmitten der Berge liegende Kloster gestürmt und alle darin befindlichen Nonnen gefoltert und aufgeschlitzt. Nur der Oberin, Mutter Gabriella, sei die Flucht geglückt, wobei sie eine sehr alte Handschrift mitgenommen habe, das Satansevangelium. Marias Augen weiten sich. Landegaards Worten zufolge haben die Reiter das Kloster überfallen, um diese Handschrift an sich zu bringen. Auch Kaleb hatte es auf jenes Evangelium abgesehen und auf der Suche danach, die ihn von Afrika bis in die Vereinigten Staaten geführt hatte, zahlreiche Morde begangen. Im Abstand von siebenhundert Jahren die gleiche Art von Verbrechen mit ein und demselben Motiv!
Maria liest weiter. Der Generalinquisitor äußert in seinem Bericht die Vermutung, dass die entflohene Nonne dem Alpenhauptkamm folgend in die Gegend des heutigen Norditalien gelangt war, jedenfalls heißt es darin, ihre Fährte verliere sich in jene Richtung und niemand wisse etwas über den Verbleib des geheimnisvollen Evangeliums, das sie bei sich trug.
Das zweite Pergament, ebenfalls von Landegaard unterzeichnet, trägt das Datum vom 15. August 1348. Ein reitender Bote hat es von Bozen nach Avignon gebracht. Volle vier Wochen war der Generalinquisitor der dem Gemetzel entkommenen Nonne auf ihrer sechs Monate alten Fährte gefolgt. Wie war es einer schwerverletzten alten Frau, die allein unterwegs war, überhaupt möglich gewesen, die entsetzliche Härte eines Winters zu ertragen, dessen kalte Winde den Pesthauch des Schwarzen Todes durch die Lande trugen? Landegaard konnte es sich nicht denken.
Die Antwort auf diese Frage findet sich ein Stück weiter. Dort heißt es, sie habe in Klöstern südlich der Alpen Unterschlupf gefunden: in der Klosterfestung der Klarissen von Ponte Leone, bei den Trappisten von Maccagno Superiore oberhalb des Lago Maggiore, in Santa Madonna di Carvagna über dem Comer See, im Karmel von Pia San Giacomo sowie in jenem von Cima di Rosso von Martinsbrück an der Grenze zu Tirol. Jedes einzelne dieser Klöster sei jeweils, kurz nachdem die Alte es verlassen hatte, überfallen und seine Insassen ohne Ausnahme gefoltert und gekreuzigt worden. Diese makabre Entdeckung hat Landegaard im Lauf der endlosen Wochen gemacht, in denen er der Spur der Oberin gefolgt war. Bedeutet das, dass die umherziehenden Reiter vor ihm deren Fährte aufgenommen hatten? Nein. Der entsetzliche Bericht zeigt, dass etwas anderes sie seit sechs Monaten jagt: ein einzelner Mörder, der sich insgeheim Zugang zu den Klöstern verschafft und deren Insassen dort Nacht auf
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