Das Evangelium nach Satan
der Schwelle stehen und saugt prüfend die schlechte Luft der Zelle ein. Dann fragt sie die Nonne: »Und Sie?«
»Was soll mit mir sein?«
»Wie finden Sie Ihren Weg zurück?«
»Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf. Legen Sie sich schlafen. Ich komme bei Tagesanbruch wieder her.«
Nach diesen Worten schließt sie die Tür und dreht den Schlüssel zweimal von außen herum. Als sich das schlurfende Geräusch ihrer Sandalen entfernt hat, horcht Maria angespannt auf etwas, das von weither durch die Mauern zu dringen scheint. Menschliche Klagelaute. Sie schließt die Augen. Auf keinen Fall will sie der Panik erliegen. Nicht mitten in der Nacht, und schon gar nicht in einem Kloster voller verrückter alter Weiber, das fern aller menschlichen Ansiedlungen in zweitausendfünfhundert Metern Höhe liegt. Sie verzieht das Gesicht zu einem Lächeln. Draußen tobt der Sturm. Nichts anderes ist das Geräusch, das sie für Klagelaute gehalten hat. Von Mutter Abigails Arbeitszimmer bis zu diesem Kellergeschoss ist sie der alten Nonne zweiundsiebzig Stufen hinab über eine steinerne Wendeltreppe gefolgt. Also muss sie sich irgendwo im zweiten oder dritten Untergeschoss befinden, und zwar auf der Wetterseite, wo nichts die Windstöße aufhält, die mit aller Kraft am Kloster rütteln wie an der Brücke eines Schiffs. Während sie auf das Toben der entfesselten Elemente lauscht, kommt sie sich beinahe so einsam vor wie damals, als sie im Koma lag. Die völlige Stille im Inneren und die fernen Geräusche aus der Welt um sie herum.
In der Fackel zerplatzt ein Wachskügelchen unter der Hitze. Feurige Spritzer fliegen durch die Luft und verzischen auf dem Zellenboden. Maria tritt sie vorsichtshalber aus. Dann nimmt sie die Fackel in die Hand, hält sie weit von sich und sieht sich in dem Raum um, der ihre Zuflucht sein wird, bis der Schneesturm sich gelegt hat.
Die Wände bestehen aus weiß gekalkten Granitblöcken, an denen man einige eiserne Kleiderhaken angebracht hat. In den Boden ist ein von zahllosen Sohlen abgetretenes Mosaik in Gestalt eines safrangelben und goldenen Krückenkreuzes eingelassen – das Ordenssymbol der Weltfernen Schwestern. Maria bleibt in seiner Mitte stehen. An der Rückwand der Zelle hängt über einem Strohsack ein Abreißkalender. Neben diesem schlichten Lager steht ein kleiner Nachttisch mit einem Stapel verstaubter Bücher. Zur Linken dient eine waagerecht in die Wand eingelassene Steinplatte als Arbeitstisch. Davor steht ein hölzerner Schemel. In der rechten Ecke sieht Maria eine Schüssel, deren Email hier und da rissig ist, und eine alte Wasserkanne. Sozusagen das Badezimmer … Darüber wirft ein rostiger Metallspiegel das Bild eines Kruzifixes zurück, das an der gegenüberliegenden Wand hängt. Ein grauer Metallschrank vervollständigt die Einrichtung.
Maria steckt einige Kerzen in den Leuchter auf dem steinernen Tisch. Mit einem Streichholz zündet sie eine Kerze nach der anderen an und verzieht vor Schmerz das Gesicht, als die Hitze des fast abgebrannten Streichholzes ihren Fingerkuppen zu nahe kommt. Die Flammen zucken in der Dunkelheit. Ein herrlicher Geruch nach warmem Wachs breitet sich in der Zelle aus. Maria hat ihre Besichtigung beendet: weder eine Toilette noch fließendes Wasser. Kein Bild, nicht einmal ein SchwarzWeiß-Foto aus dem Leben der Nonne, deren Zuhause das hier war. Nicht die geringste Erinnerung an das Leben jener Frau aus der Zeit, bevor sie den Schleier nahm. Man könnte glauben, die Erinnerung an all das sei mit dem Augenblick ausgelöscht worden, da sich die Pforte des Klosters hinter ihr geschlossen hatte.
Jetzt wendet sich Maria dem Kalender an der Wand zu. Er zeigt den 16. Dezember an, – der Tag, an dem die Nonne ermordet wurde. Seither hat niemand mehr Blätter abgerissen, möglicherweise aus Aberglauben. Schließlich setzt sie sich auf den Strohsack und nimmt die Bücher zur Hand, mit denen sich die alte Nonne in den Stunden vor ihrem Tod beschäftigt hat. Es sind Werke über die Gründungsmythen verschiedener Religionen. Maria steckt sich eine Zigarette an und schlägt aufs Geratewohl eins der Bücher auf.
8
Es ist ein englisches Werk aus dem neunzehnten Jahrhundert, das die Ausgrabung einer Tontafel-Bibliothek in den Ruinen der antiken Stadt Ninive am Tigris beschreibt. Auf einigen dieser Tausenden von Tafeln hatten die Archäologen den Urtext des Gilgamesch-Epos entdeckt. Der Legende nach hatte sich König Gilgamesch von Uruk auf die Suche nach
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