Das Evangelium nach Satan
Weihwasser besprengen.
O mein Gott, die Tür kann jeden Augenblick nachgeben. Herr, sie sind da.
Maria liest die letzten Worte des Generalinquisitors noch einmal. Dort also war die Suche jenes Gottesmannes zu Ende gegangen, im selben Kloster, in dem die alte Nonne vom Mons Cervinus Zuflucht gefunden hatte, um zu sterben.
Erschöpft legt sie sich auf den Strohsack und sieht zur Decke empor. Sie lauscht auf das ferne Heulen des Windes. Er stürmt mit verdoppelter Kraft gegen die Mauern an. Eine sonderbare Lähmung befällt sie. Sie kämpft kurz dagegen an. Dann versinkt sie, ohne es zu merken, in einen unruhigen Schlaf.
12
Die Flamme einer Fackel knistert in der Dunkelheit. Carzo bewegt sich durch die Tiefen des Aztekentempels. Es ist kalt. Reif bedeckt die Darstellungen an den Wänden, die im Licht der Fackel sichtbar werden. Die ersten Menschen, die Zerstörung des Paradieses, der prähistorische Bote, der das Feuer bringt, die Pyramiden und die von den Olmeken zum Ruhm des Lichts errichteten großen Städte. Ganz am Ende des Gangs erreicht der Exorzist eine riesige Halle. Dort befindet sich ein Wesen inmitten eines Kreises aus brennenden Kerzen. Er nähert sich. Das Wesen betrachtet ihn.
Er wälzt sich unruhig im Schlaf: Ein blutroter Abendhimmel liegt über dem Urwald, mit einer Sonnensichel am Horizont. Die Flüsse sind ausgetrocknet, Tierkadaver und Fliegen füllen ihr Bett bis zum Rand. Die Bäume sind verdorrt, und eine dicke Schicht Asche bedeckt den Boden. Kein Vogel singt, kein Insekt summt. Das große Übel hat das Leben besiegt.
Er schreitet zwischen den toten Bäumen hindurch. Zweige, die er beiseiteschiebt, um sich einen Weg zu bahnen, brechen mit trockenem Knacken. Alle Farben sind verschwunden, dahingegangen mit dem Leben, das sie gespiegelt haben.
Jeder seiner Schritte wirbelt Aschewolken auf. Trotz der Hitze schwitzt er nicht. Kaum spürt er die Riemen des Rucksacks, die in seine Schultern schneiden. Er lässt die höchste Stufe der mächtigen Pyramide nicht aus den Augen, die hinter den toten Bäumen aufragt. Oumaxaya, die vom großen Übel verschlungene Stadt. Sie ist untergegangen, als sich die Olmeken vom Licht abwandten.
Die Ascheschicht unter Carzos Sohlen wird härter. Jetzt hat er den Fuß der Pyramide erreicht. Er hebt den Blick und sieht in großer Ferne die drei Kreuze auf der Spitze des Bauwerks. Die Sonne am Horizont taucht die Szene in scharlachrotes Licht.
Je höher er steigt, desto heißer wird die Luft. Jetzt steht er über den Gipfeln des Dschungels und lässt den Blick schweifen. Tote Bäume und Asche, so weit das Auge reicht. Es sind nur noch rund zwanzig Stufen bis oben. Er kann die Gesichter der Gekreuzigten unterscheiden, die ihn näher kommen sehen. Die Sonne hat die Leiber der beiden geopferten Olmeken entsetzlich verbrannt. Ihre Lider scheinen zu zerbröseln, und die Augen sind in ihren Höhlen geschmolzen. Dennoch sind sie noch nicht tot. Sie lächeln.
Der Exorzist sieht zum Kreuz in der Mitte, an das Christus genagelt ist. Das gleiche Gesicht und die gleichen Augen wie die des Erlösers in den Evangelien. Der gleiche Bart, die gleichen ungewaschenen langen Haare. Nur der Blick ist anders. In ihm liegt nichts als Hass und Bosheit. Er erstarrt, als eine tonlose Stimme aus den Lippen des Gekreuzigten sagt: »Das ist nicht das Ende, Carzo! Hörst du mich? Das ist erst der Anfang!«
Carzo fährt hoch und setzt sich auf. Das leise Geräusch der Triebwerke, das Beben des Rumpfs unter dem Einfluss von Turbulenzen. Die Kabine der 767 ist in Dunkelheit getaucht, doch ein sonderbares graues Licht dringt durch die Kunststoffjalousien vor den Fenstern.
Er wirft einen Blick zu den Fluginformationen, die über ein Display angezeigt werden. Die vor etwas mehr als acht Stunden in Manaus gestartete Maschine befindet sich jetzt über dem Golf von Mexiko und wird in wenigen Minuten Havanna überfliegen. Carzo schiebt seine Jalousie hoch und sieht die Lichter der kubanischen Hauptstadt in der Ferne. Er schaut auf seine Armbanduhr. Noch drei Stunden bis zur Landung. Er kann nicht mehr schlafen. Er schaltet das Licht ein. Der weiße Schein fällt auf sein Gesicht. Auf dem heruntergeklappten Tischchen vor sich sieht er ein in Zellophan eingewickeltes Sandwich, eine Flasche Mineralwasser und die Akte, die er am Flughafen von Manaus aus dem Schließfach genommen hat. Sie enthält etwa dreißig Blätter und unscharfe Fotos, die in kleinen Hotels in fernen Winkeln Australiens und den
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