Das Evangelium nach Satan
mit ihr zu tun haben.
Der 16. Dezember. An jenem Tag ist die Nonne erschrocken aus dem Schlaf aufgefahren, von ihrem Lager aufgestanden und vor den Spiegel getreten. Wie Maria ist sie mit den Fingern darüber gefahren und hat vor sich hin gemurmelt: »O Gott, ich bin eingeschlafen, und jetzt ist er da. Er hat sich Zutritt zum Kloster verschafft. Er hat es auf mich abgesehen. O mein Gott, gib mir die Kraft, ihm zu entkommen.«
Mit einem Mal merkt Maria, dass es in der Zelle überhaupt nicht kalt ist. Es muss wohl ein ziemlich milder Tag gewesen sein. Außerdem fällt ihr auf, welches Entsetzen die Nonne bei der Erkenntnis erfasst hat, dass sie sterben wird. Sie hat in der Klosterbibliothek etwas entdeckt, ein unaussprechliches Geheimnis, das die Oberinnen ihres Ordens einander über die Jahrhunderte hinweg weitergegeben haben. Doch bevor sie stirbt, muss sie unbedingt noch etwas erledigen. Sie hat ein Gelöbnis zu erfüllen.
Sie tastet über den Spind. Als sie den Schlüssel gefunden hat, der darauf liegt, steckt sie ihn ins Schloss der Zellentür, wobei sie darauf achtet, es nicht schnappen zu lassen. Maria tut es ihr im Traum nach.
Die Tür öffnet sich. Die Luft im Gang ist kühl. Die Nonne nimmt eine Fackel aus dem Halter an der Wand und strebt der hölzernen Treppe entgegen. Als die Stufen unter ihrem Gewicht knarren, stockt ihr vor Panik der Atem. In der ersten Etage angekommen, bleibt sie an einem offenen Fenster stehen und atmet tief die frische Luft ein. Die Nacht ist ruhig und sonderbar hell. Durch die Augen der Nonne sieht Maria den bronzenen Christus am Kreuz, das sich in der Mitte der freien Fläche erhebt. Sein Gesicht wendet sich ihr zu und sieht sie lächelnd an. Dann eine Bewegung. Die Augen der Nonne treten weit vor: Soeben ist eine Gestalt auf die freie Fläche getreten. Sie trägt eine schwarze Kutte mit einer großen Kapuze und scheint über den Steinplatten zu schweben. Entsetzt reißt sich die Alte los und läuft so schnell sie kann die Treppe hinab. Vor dem Büro der Oberin wendet sie sich um. Das Wesen ist in das Klostergebäude eingetreten und kommt durch den Gang auf sie zu.
Jetzt stürzt sie eine Wendeltreppe hinab, die in die Tiefen des Berges führt. Es ist eine Abkürzung auf dem Weg zur Bibliothek. Am Fuß der Treppe liegt ein schmaler Gang. Die Nonne stößt einen Schmerzenslaut aus. Sie hat sich die Hand an einer rostigen Spitze verletzt. Sie wischt das Blut an ihrem Habit ab und läuft in fieberhafter Eile weiter, wobei sie sich an den Wänden des Gangs entlangtastet.
Atemlos gelangt sie in einen großen Raum, der nach Holz und Petroleum riecht. Sie nimmt eine Lampe zur Hand, an deren fast vollständig heruntergedrehtem Docht hinter dem Glaskolben eine winzige Flamme brennt, und geht weiter in die Dunkelheit. Im Schein der Lampe sieht man Reihen von Schreibpulten und Regale voller alter Bücher. An der hinteren Wand des Bibliothekssaals angekommen, dreht sie den Docht höher, um besser sehen zu können. Dann hebt sie die Lampe und leuchtet damit eine Kopie von Michelangelos Pietà Rondanini an, bei der die kniende Muttergottes den Leichnam Christi umarmt. Maria sieht, wie die Finger der Nonne vor den Augen des Standbilds verharren. Ein raues Flüstern: »Hier muss man drücken. Haben Sie das verstanden? Hier muss man drücken, dann wird der Weg zur Höhe frei.«
Maria fährt zusammen. Die Nonne hat diese Anweisung so formuliert, als sei ihr bewusst, dass Maria dort ist. Mit einem Mal zuckt die Flamme. Eine Bewegung hinter der Nonne. Das Rascheln von Stoff, so leise wie ein Seufzer. Eine eiskalte Hand legt sich auf ihren Mund. Der von dem Mönch ausgehende Gestank hüllt sie ein. Sie begreift, dass alles verloren ist. Ein weißer Blitz vor ihren Augen lässt die Vision der Pietà und das Gesicht der trauernden Muttergottes vor ihren Augen verschwinden. Dann spreizen sich ihre Finger, die Lampe fällt klirrend zu Boden, der gläserne Zylinder zerbricht. Ein Todesröcheln. Während der Mönch immer wieder mit dem Dolch zustößt, sinkt die Alte auf die Knie. Ihre Augen schließen sich. Über sein Opfer geneigt, summt der Mönch, während er sich weiter mit der Nonne beschäftigt. Ein Adrenalinstoß durchfährt Maria. Sie hat Kalebs Stimme erkannt.
15
Nach und nach taucht sie aus ihrem Schlaf auf und fährt sich sogleich prüfend über Rumpf und Glieder. Sie seufzt erleichtert. Die Vision ist vorüber. Allerdings befindet sie sich in einer sonderbaren Lage: Sofern sie den
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