Das Evangelium nach Satan

ringsum. Maria versucht, die Titel der gebundenen Handschriften zu entziffern, die in den Lichtkreis ihrer Lampe geraten. Es sind Abhandlungen antiker Philosophen über die im Universum wirkenden geheimnisvollen Kräfte, lateinische Schriften zur Alchemie und zu medizinischen Themen, darunter auch Abtreibungspraktiken. Auf manchen Buchrücken prangt dort, wo man den Titel entfernt hat, ein fünfzackiger Stern. Handbücher, die Exorzisten Mittel an die Hand geben, mit denen sie den Mächten der Finsternis das Handwerk legen können, Zauberbücher von Hexen sowie verbotene Evangelien und verfemte Bibeln.
    An jedem einzelnen Regalbrett zeigen in Buchsbaumtäfelchen gravierte römische Ziffern an, in welchem Jahrhundert die Kirche in den Besitz der jeweiligen Schriften gelangt ist. Außerdem scheint es ein zweites Ordnungssystem zu geben, das vermutlich nur Eingeweihte durchschauen. Unter dem jeweiligen Band findet sich eine Reihe von Einkerbungen im Holz. Zweifellos ein Geheimcode, der es den Weltfernen Schwestern ermöglicht, auch im Dunkeln das jeweils gewünschte Werk ohne Schwierigkeiten zu finden, indem sie die Finger über die Regalbretter gleiten lassen. Tausendfünfhundert Jahre der Beschäftigung mit den entsetzlichsten Dingen in vollkommener Stille. Ist es da ein Wunder, wenn die unglückseligen Frauen nach einem entsagungsvollen Leben, das sie in den Tiefen der Erde damit zugebracht haben, solche Gräuel zu lesen, den Verstand verlieren?
    Es fällt Maria auf, dass auf den letzten Brettern eine Reihe verstaubter Phiolen und anderer Glasgefäße steht. Unwillkürlich stößt sie einen Entsetzenslaut aus, als sie sieht, was die größeren Gefäße enthalten: Föten mit verzerrten Gesichtern und zerfasertem Fleisch. Auf jedem der Gefäße klebt ein Zettel mit Namen und Datum: Schwester Harriet, 13. Juli 1891; Schwester Mary Sarah, 7. August 1897; Schwester Prudence, 11. November 1913 … Namen und Daten, die diese makabre Sammlung konservierter Leichen wie Grabinschriften identifizieren.
    Ihr fällt auf, dass auf manchen der Gefäße diesen Angaben eine weitere folgt. Ein Kreuz zum Zeichen der Trauer, und die schlichten Worte: »Im Kindbett verschieden«. Sie schreitet die Reihe noch einmal ab, um die Etiketten mit dieser zusätzlichen Angabe zu zählen. Es sind insgesamt dreißig.
    Am hinteren Ende des letzten Regalbretts fallen ihr sieben aufeinandergestapelte Bände ins Auge. Sie nimmt einen herunter und bläst den Staub vom Einband. Das alte Papier knistert unter ihren Fingern. Es ist ein Geburtenregister für die Jahre 1870 bis 1900. Seite auf Seite liest sie die mit roter Tinte geschriebenen Zeilen. Außer diesen Namen und Daten sieht sie Dutzende von Blättern mit dem Briefkopf oder Wappen reicher amerikanischer oder englischer Familien. Sie haben ihre Töchter nach einem Fehltritt ins Holy-Cross-Kloster geschickt, damit dessen Oberin sie für den Rest ihres Lebens wegsperrte.
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    Schwester Jenny, 21. Mai 1892, im Kindbett verschieden.
    Schwester Rebecca, 15. Januar 1893, im Kindbett verschieden.
    Schwester Margaret, 17. September 1900, im Kindbett verschieden.
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    »Gütiger Gott im Himmel …«
    Jetzt begreift Maria, was es mit den leblosen Wesen in den Glasgefäßen auf sich hat: Dieser Orden hat seine Novizinnen dadurch gewonnen, dass man deren unerwünschte Leibesfrucht beseitigte. Junge Mädchen, von denen sich die Angehörigen losgesagt hatten, weil sie schwanger geworden waren. Die verrückten Alten hatten ihnen das Kind auf dem Strohsack in einer der Zellen mit Nadeln und einem geheimnisvollen Trank abgetrieben und sie dabei gleichzeitig unfruchtbar gemacht. Anschließend wurden sie in das Nonnenhabit gesteckt. Deshalb also verlassen Weltferne Schwestern nie ihr Kloster. Und damit die Öffentlichkeit nicht eines Tages zufällig hinter ihr Geheimnis kommt, haben sie die Zeugnisse ihrer Schmach nicht begraben, sondern in der Bibliothek der verbotenen Bücher aufbewahrt. Eine Gemeinschaft verstümmelter alter Weiber, die junge Frauen verstümmelten.
    Schön, Maria, jetzt solltest du aber schnellstens von hier verschwinden! Wenn die sadistischen Alten merken, dass du ihr Schreckenskabinett entdeckt hast, entzünden sie ein Freudenfeuer und murksen dich die ganze Nacht mit Stricknadeln und Drahtschlingen ab. Anschließend stecken sie dich in Formalin, und dann schwimmst du bis ans Ende aller Zeiten in der Dunkelheit herum. Willst du das etwa?
    In der Mitte der Bibliothek steht