Das Evangelium nach Satan
hatte, die göttliche Botschaft zu verbreiten und verlorene Seelen auf den rechten Pfad zurückzuführen, war es mit seiner Armee von Priestern und Laienmitgliedern Schritt für Schritt gelungen, alle Bereiche der Gesellschaft zu erobern. Noch eine äußerst wichtige Persönlichkeit war bei diesem Flugzeugabsturz umgekommen: Seine Eminenz Kardinal Miguel Luis Centenario, Erzbischof von Cordoba und nach allgemeiner Einschätzung mutmaßlicher Nachfolger des gegenwärtigen Papstes auf dem Stuhl Petri. Er hatte in der Kurie zwar eine ganze Anzahl von Feinden, verfügte aber auch über mächtige Unterstützer. Die Mehrheit derer, die als Mitglieder eines Konklaves infrage kamen, befürwortete seine offen vorgetragene Ansicht, man müsse die Kirche mehr zum südamerikanischen Kontinent hin öffnen, wo immerhin ein Drittel der eineinhalb Milliarden katholischer Christen lebe, die es auf der ganzen Welt gab. An dieser Notwendigkeit könne es zu einer Zeit, da der Glaube im alten Europa schwächer wurde, während auf der anderen Seite des Atlantiks Millionen von Gläubigen in die Kirchen strömten, nicht den geringsten Zweifel geben. Angesichts dieser Situation hätte der gegenwärtige Papst sogar am liebsten einen südamerikanischen Kardinal als seinen Nachfolger gesehen – und genau damit war der Schwarze Rauch ganz und gar nicht einverstanden.
Carzo wischt sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn. Das letzte Bild im Umschlag zeigt dieselbe Szene wie das vorige, nur dass die Beine des Greises, dessen Gesicht sich nach wie vor nicht erkennen lässt, jetzt nebeneinander stehen. Die Zeitung hat er zusammengelegt. Im Licht des Kaminfeuers sieht man, dass er ein Glas Whisky mit Eiswürfeln in der Hand hält. Carzo sieht aufmerksam hin. Der Siegelring mit einem großen Amethyst, den der Mann trägt, kommt ihm bekannt vor. Carzo dreht die Deckenleuchte in eine andere Richtung und hält sich das Bild dicht vor die Augen, um das Wappen zu erkennen: ein goldener Löwe auf blauem Grund. Es ist das Wappen des Kardinals Camerlengo Campini, des zweitmächtigsten Mannes im Vatikan.
14
Maria Parks’ Nasenflügel beben. In der Zelle riecht es nicht mehr ausschließlich nach Wachs, sondern vor allem nach Schmutz und ungewaschenem Körper. Sie spannt sich an.
Dieser widerliche Gestank scheint von überallher zu kommen und in kompakten Wellen aufzusteigen.
Sie wird langsam wach und holt tief Luft. Ein sonderbares Pfeifen. Ein Hustenanfall. Sie öffnet im Halbdämmer die Augen. Sie sieht die Mauern nur undeutlich.
Sie wendet den Kopf und sieht zum Steintisch hinüber. Voll Entsetzen stellt sie fest, dass die Pergamente mit den Berichten Landegaards verschwunden sind. Mit ausgedörrter Kehle lauscht sie auf das ferne Geheul des Windes. Nichts. Der Sturm ist abgeflaut. Nein, er hat bestimmt noch gar nicht richtig angefangen.
Sie schüttelt den Kopf, um die leise Stimme darin zum Schweigen zu bringen. Sie versucht aufzustehen, sinkt aber schwer auf den Strohsack zurück und wird sich mit einem Mal der Veränderungen bewusst, die ihr Körper ihm Schlaf erfahren hat. Ihre Schenkel und Waden sind dünner geworden, ihr Leib schwammig, und ihre Brüste schlaff. Sie begreift, dass der scheußliche Geruch nach Torf, Urin und ungewaschenem Geschlecht, der sie geweckt hat, von ihren eigenen Achselhöhlen und ihren Leisten ausgeht. »Großer Gott im Himmel, was ist da passiert?«
Sie zuckt zusammen, als sie das raue Gekrächz hört, das aus ihrer Kehle kommt. Es sind nicht ihre Beine, mit denen sie jetzt versucht, von ihrem Lager herunterzukommen, nicht ihre Schenkel und Hüften, und schon gar nicht ist das ihr Unterleib. Auch ihre Zähne sind das nicht, die sie jetzt mit der Zunge betastet. Vor allem ist das, was sie da hört, nicht ihre Stimme.
Sie sieht auf den Kalender: Samstag, 16. Dezember, das Datum, an dem die Nonne ermordet wurde. Sie tastet zu dem Tischchen hinüber, auf das sie die Bücher gelegt hat. Dabei sieht sie mit Entsetzen die ungewaschene alte Hand voller Schwielen, die sich anstelle ihrer eigenen bewegt. Die Bücher sind fort.
Mit Mühe gelingt es ihr aufzustehen. In fiebriger Hast reißt sie ein Streichholz an, tritt vor den Metallspiegel an der Wand und erstarrt bei ihrem Anblick. Zottelige graue Haare, ein faltiges Gesicht, aufgequollene Lippen und kleine dunkle Knopfaugen unter struppigen Brauen. Während das Streichholz zischend erlischt, merkt sie, wie sich ihr Gedächtnis mit Erinnerungen füllt, die nichts
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