Das Evangelium nach Satan
Mitteilungen ihres Gehirns trauen darf, muss sie im Schlaf vom Lager geglitten sein.
Sie atmet tief ein. Der Gestank der alten Nonne und der schwere Geruch nach heißem Wachs sind verschwunden. Stattdessen wittert sie Petroleum und Holz, ganz wie in ihrem Traum. Es kommt ihr vor, als sei die Luft frischer als in ihrer Zelle, und der Raum klingt auch anders. Sie lauscht. In der Ferne hört sie Glockenschall. Ihre Hände tasten über den Boden. Er ist nicht aus Stein.
Sie öffnet die Augen und kann mit knapper Not einen Entsetzensschrei unterdrücken, als sie sieht, dass sie auf dem staubigen Parkett der Klosterbibliothek kniet. Ihr Blick richtet sich auf die Petroleumlampe, deren Flamme hinter dem gläsernen Zylinder brennt. Sie richtet sich auf. Draußen tobt nach wie vor der Sturm. Die Gerüche, die kühle Atmosphäre, alles ist genau wie in ihrem Traum. Sie beißt sich auf die Unterlippe. Sie muss wohl schlafwandelnd jede Bewegung der alten Nonne nachgeahmt haben. An diese Vorstellung klammert sie sich. Als Beweis für die Richtigkeit ihrer Annahme spürt sie etwas Schweres in ihrer Jeanstasche. Der Zellenschlüssel, den die Nonne vom Spind heruntergenommen hatte. Vermutlich hat Maria es im Schlaf ebenso gemacht. Ja, so muss es sein. Eine andere Erklärung ist nicht möglich. Als sie die Hand aus der Tasche nimmt, verzieht sie vor Schmerz das Gesicht. Ein Blick zeigt ihr, dass sie zwischen Zeige-und Mittelfinger blutet. Wie der alten Nonne ist ihr auf dem Weg durch den Gang zur Bibliothek ein rostiges Stück Metall in die Hand gedrungen. Sie wickelt ein Taschentuch um die Wunde und zwingt sich zur Ruhe. So genau hat sie jede Bewegung der Ermordeten nachgeahmt, dass auch sie sich verletzt hat. Ja, das ist die Erklärung.
Von wegen, liebe Maria, die Erklärung siebt ganz anders aus, und das weißt du auch.
Sie nimmt die Lampe zur Hand und dreht den Docht ganz hoch. Ein starker Petroleumgeruch breitet sich aus. Sie hält die Lampe weit von sich und betrachtet die Schatten, die hinter dem Lichtschein tanzen. Als sie die Kopie von Michelangelos Pietà entdeckt, bleibt sie stehen. Sie spürt, wie ihre Finger den glatten Marmor berühren. Das Gesicht der Muttergottes. Um sie rein und unsterblich erscheinen zu lassen, hat Michelangelo sie als junge Frau dargestellt, fast noch ein Mädchen. Ihre Trauer ist so tief, dass Maria ihren Kummer beinahe mitempfinden kann – aber auch ihren Zorn. Nachdem sie flüchtig ihre kalten Lippen berührt hat, streicht sie zu den marmornen Augen empor.
»Hier muss man drücken, dann öffnet sich der Weg zur Hölle.«
Sie drückt. Die Augen des Standbildes geben nach. Ein Knacken. Im Parkett hat sich eine Falltür geöffnet. Der Weg zur Bibliothek der verbotenen Bücher, dem geheimen Raum, den die Weltfernen Schwestern die Hölle nennen, ist frei.
Maria hält die Lampe in die Öffnung und sieht Granitstufen. Einen Augenblick atmet sie reglos die nach Moder und Salpeter riechende Luft ein, die nach oben dringt, dann setzt sie, einen Fuß auf die oberste Stufe und macht sich auf den Weg hinab in die Finsternis.
Als sie die zehnte Stufe erreicht, lässt ein Geräusch sie zusammenfahren. Wie es aussieht, hat sie unwissentlich einen Federmechanismus ausgelöst, denn knarrend schließt sich über ihrem Kopf die schwere Falltür. Sie verzieht den Mund zu einem schiefen Lächeln.
16
Unten an der Treppe versperrt ein massives schmiedeeisernes Gitter den Zugang zum Bibliothekssaal. An jedem seiner vierzehn Querstäbe ist ein gotischer Buchstabe angeschweißt, der über ineinander verschlungene Ranken mit den anderen in Verbindung steht. Sie bilden den lateinischer Satz
LIBERA NOS A MALO
Erlöse uns von dem Übel. Da das Holy-Cross-Kloster erst um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erbaut worden ist, dürfte das unübersehbar im Mittelalter hergestellte Gitter aus einem der Mutterhäuser des Ordens in Europa stammen. Auch die Bibliothek der verbotenen Bücher hat man wohl erst nach der Eröffnung des Klosters in aller Heimlichkeit dorthin geschafft.
Als sich Maria mit aller Kraft gegen das Gitter stemmt, gibt es mit vernehmlichem Knirschen den Zugang zur »Hölle« frei. Diesen riesigen kreisrunden unterirdischen Saal kann man nur mit der Spitzhacke aus dem nackten Fels herausgehauen haben. Eine Titanenarbeit, die Jahre schwerster Anstrengung gekostet haben dürfte.
Die Lampe vor sich in der Hand, dringt Maria in die Dunkelheit ein. Gewaltige Eichenregale bedecken die Wand
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