Das Evangelium nach Satan
Bragantia im Schlaf auf. Im selben Augenblick hörte Mutter Isolde Klementia mit schleppendem Schritt die Treppe des Bergfrieds emporkommen.
14
Inzwischen gibt es so gut wie keine Luft mehr. Es kann nicht mehr lange dauern, bis Mutter Isolde erstickt. Von der Kerze glimmt nur noch ein orangefarbener Lichtfleck im Dunkeln, dann erlischt auch dieser mit einem Zischen des Dochts. Die Finsternis umschließt die lautlos schluchzende Nonne.
Ein Geräusch auf der anderen Seite der Mauer lässt sie zusammenfahren. Gedämpft hört sie erneut Bragantias Stimme, sehr viel näher. Während die Novizin mit der Hand über die Mauer tastet, flüstert sie wie ein Kind, das in der Dunkelheit Verstecken spielt: »Flieht nicht, Ehrwürdige Mutter. Kommt mit uns. Wir sind alle da.«
Weitere Flüsterlaute ertönen. Mutter Isoldes Nackenhaare sträuben sich, als sie die Stimmen der Schwestern Sonja und Edith erkennt, das entsetzliche Zähneknirschen von Schwester Margot und das nervöse Gekicher von Klementia, deren erdiges Lächeln nach wie vor in ihrer Erinnerung eingegraben ist. Wie Bragantia streicht nun ein Dutzend weiterer Nonnen mit den Händen über die Mauer.
Als das Geräusch in Höhe ihres Kopfes aufhört, hält die Oberin die wenige Luft an, die ihr noch bleibt, um ihre Anwesenheit nicht zu verraten. Stille. Dann hört sie jenseits der Mauer ein Schnüffeln. Erneut dringt Schwester Bragantias Flüstern in die Dunkelheit: »Ich spüre, dass du da bist.«
Erneutes, drängenderes Schnüffeln.
»Hörst du mich, alte Sau? Ich kann dich riechen.«
Mutter Isolde unterdrückt einen Entsetzenslaut. Nein, das Wesen, das in Schwester Bragantias Leib gefahren ist, riecht sie nicht. Warum würde es sich sonst die Mühe machen, nach ihr zu rufen?
Mit aller Kraft klammert sie sich an diese Gewissheit. Als die Hände der toten Schwestern erneut über die Mauer fahren, merkt sie, dass sie ein Röcheln nicht unterdrücken kann. Während ihr Tränen des Mitgefühls über die Wangen laufen, legt sie sich die eigenen Hände fest um den Hals und erdrosselt sich auf diese Weise selbst. Auf keinen Fall will sie ihre Anwesenheit und damit den Aufenthaltsort des Satansevangeliums preisgeben, auf dessen Einband, die Inschrift schwach im Dunkeln schimmert.
TEIL ZWEI
1
Hattiesburg im Staat Maine, Gegenwart
Mitternacht. Special Agent Maria Parks schläft fest. Sie hat ein Schlafmittel genommen, drei kleine rosa Tabletten auf einmal, zusammen mit einem kräftigen Schluck Gin Tonic, damit es nicht so bitter schmeckt. Seit Jahren ist es jeden Abend derselbe Ablauf: Sie nimmt ihr Schlafmittel und zappt vom Bett aus durch die Nachrichtensendungen im Fernsehen. Wenn die Bilder allmählich unscharf werden und ihr Gehirn nichts mehr richtig aufnimmt, macht sie das Licht aus und bemüht sich, nicht an das zu denken, was in der Dunkelheit vor ihrem inneren Auge blitzartig aufzucken wird. Auf keinen Fall denken. Nicht an die blonde junge Frau denken, der ein Unbekannter auf einem New Yorker Parkplatz den Bauch aufgeschlitzt hat, nicht an den Stadtstreicher, der zwischen Mülltonnen lag, und auch nicht an das tote kleine Mädchen, das blutige Hände auf einer Müllkippe in den Außenbezirken von Mexiko Stadt abgelegt hatten. Nicht an das misstönende Heulen und Schluchzen, das ihren Kopf zu sprengen droht, wenn sie einzuschlafen versucht. Hilflos sieht sie mit ihren Augen, wie Morde geschehen, ohne dass sie eingreifen kann. Genau genommen sieht sie diese Morde durch die Augen des Opfers, und das ist das Grauenhafteste an diesen Szenen. Jedes Mal, wenn ein solcher Mord geschieht, während sie einschläft, nimmt sie ihn durch die Augen des Opfers wahr. Es sind so genaue Bilder, dass es ihr vorkommt, als werde sie selbst ermordet. Um das Entsetzen zu vertreiben, das sie jedes Mal befällt, wenn sie das Licht löscht, lenkt Maria Parks ihre ganze Aufmerksamkeit auf einen gedachten Punkt zwischen ihren Augenbrauen. In China ist man davon überzeugt, dass durch diesen Punkt die Lebensenergie Qi fließt. So gelingt es ihr, die Stimmen in ihrem Kopf zum Schweigen zu bringen, ungefähr so, wie man bei einem Radio die Lautstärke herunterregelt, indem man an einem Knopf dreht. Nur gibt es hier keinen solchen Knopf, sondern lediglich einen Punkt zwischen den Augen. Auf ihn konzentriert sie sich mit aller Kraft, bis sie unter dem Einfluss des Medikaments das Bewusstsein verliert und für einige Stunden in bleiernen Schlaf sinkt. Sozusagen eine Atempause, bis die
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