mach's mir: hart & zart (German Edition)
1.
Unschuld
Innocence. So hatten ihre Eltern sie genannt. Nach der Unschuld. Sie hatte hellblondes, gewelltes Haar und eine süße Stupsnase. Ihre Stimme klang lieblich. „Ich bin schüchtern“, hätte sie selbst über sich gesagt. Jetzt stand sie in ihrem Schlafzimmer und blickte verzückt in den Kleiderschrankspiegel. Mithilfe ihrer besten Freundin Fanni hatte sie sich rote Kirschlippen und einen Schönheitsfleck auf die zarte Wange gemalt. Ihr Rokoko-Kleid, das sie sich beim Kostümverleih besorgt hatte, war aus hellrosa Seidenbrokat und mit hunderten von weinroten Schleifchen und zarten Rüschen verziert. Fannis Kleid schillerte meergrün. Es hatte einige Anstrengung gebraucht, um sich gegenseitig in die engen Korsagen zu schnüren, sodass oben im Dekolletee vorwitzig die Brüste heraus quollen. Unter den raschelnden Röcken befanden sich sperrige Drahtgestelle, die Innocence an die Hühnerkörbe erinnerte, mit denen sie und ihre Mutter früher auf den Markt gefahren waren, um dort ihre Hühner zu verkaufen.
Denn: Innocence kam vom Land. Im Gegensatz zu Fanni, die ein abgeklärtes Großstadtkind war. Gerade bekam Innocence von ihr ein schmales Seidenhalsband umgelegt und einen Kuss auf die nackte Schulter gedrückt. Fanni blickte Inno, wie sie sie neckisch nannte, begeistert im Spiegel an: „Mein Täubchen, du siehst unglaublich aus. Wenn du heute Nacht nicht endlich deine alberne Unschuld verlierst, fress ich einen Besen.“
Inno fuhr herum, sodass ihre ausladenden Röcke rauschten: „Ph! Du weißt: Meine Jungfräulichkeit heb ich mir bis zu Ehe auf.“
„Wozu?!“ Fanni warf sich ihren dunkelgrünen Samtumhang um. „Das ist total altbacken! Aber sicher wirst du den anwesenden Herren erfolgreich verklickern können, dass du dich im 21. Jahrhundert ‚aufsparen‘ möchtest.“
Die beiden Freundinnen mussten ein Bustaxi nehmen, um sich in ihren Reifröcken zum Kostümball transportieren zu lassen. Den veranstaltete Fannis reicher Onkel Rainer immer kurz vor Weihnachten in seinem prunkvollen Herrenhaus, das außerhalb der Stadt inmitten eines wunderschönen Barockgartens lag. Inno begleitete Fanni zum ersten Mal zu diesem gesellschaftlichen Großereignis. Eigentlich hielt sie so gar nichts von diesem affektierten Reiche-Leute-Gehabe. Aber Fanni hatte sie so lange bekniet, mitzukommen, dass Inno irgendwann ermattet aufgegeben hatte: „Na gut, aber nur, wenn du im Gegenzug mit mir in den Wald gehst und einen Weihnachtsbaum schlägst.“
Das wiederum war etwas, wo vor Fanni graute: In der Natur rumstapfen. Inno hingegen liebte das einfache Leben. Und doch, als sie jetzt durch das hohe schmiedeeiserne Tor, die breite Auffahrt hinauffuhren, blieb ihr der Atem stehen. Rechts und links, zwischen verschneiten Blumenrabatten, standen hell erleuchtete Springbrunnen, aus denen dampfende Wasserfontainen spritzten. Zwischen den akkurat gestutzten Hecken und beschnittenen Bäumen standen angestrahlte Statuen aus weißem Marmor. Und ganz am Ende des breiten Kiesweges lag das riesige Gebäude, aus dessen hohen Fenstern warmes Licht drang. Darüber lag schwer die dunkle Nacht.
Nachdem sie aus dem Taxi gestiegen waren, folgte Inno aufgeregt ihrer Freundin durch die breite Flügeltür in die glitzernde Halle. Gleich umflorte sie Barockmusik. Dramatische Geigen, durchwoben von Cembalo- und Flötenklängen. Überall standen hohe Ständer in denen tropfende Kerzen flackerten. Von der reich verzierten Decke hing ein opulenter Kronleuchter, der im eisigen Winterhauch klimperte. Inno fasste Fanni am Arm: „Oh, ist das schön!“
Ihre Freundin zog sie mit sich: „Komm, ich stell dir meinen Onkel vor. Er wird dich lieben.“
Sie schwelgten mit ihren rauschenden Röcken von einem Saal in den nächsten. Überall standen Damen in wunderschönen Rokoko-Roben, die anzüglich lachten und sich mit feinen Seidenfächern Luft zufächelten. Die Kristallgläser klirrten zart beim Zuprosten. Die Herren trugen enge Samthosen, die nur knapp bis unters Knie reichten, dazu weiße Strümpfe und gepuderte Perücken. Hungrig glitten ihre Blicke über die hervorquellenden Brüste in den tief ausgeschnittenen Dekolletees der Damen. Doch nirgendwo war Fannis Onkel zu entdecken. „Komm, wir gehen hinauf!“
Fanni lockte Innocence die breite Freitreppe hinauf ins Obergeschoss. Sie eilten über den roten Teppich, die Galerie entlang. Von hier aus sahen sie hinunter auf die wogende Gästeschar in ihren
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