Das Evangelium nach Satan
Schlagmesser ihre Sandale getroffen, wobei sie den kleinen Zeh des linken Fußes eingebüßt hat.
Während die Ehrwürdige Mutter mit den Fingern über die Fußabdrücke fährt, öffnet sich die Zellentür knarrend von selbst. Dahinter hängt das Opfer nach wie vor an der Mauer. Der Unterleib ist aufgeschlitzt, und die Augen sind vor Entsetzen weit herausgetreten. Eingeweide liegen dampfend in einer Blutlache am Boden.
12
Nachdem sie Schwester Sonja beerdigt haben, verschanzen sich die Oberin und die anderen Nonnen mit Lebensmittelvorräten und Decken im Refektorium. Vor Kälte und Angst eng aneinandergedrängt, beten sie im Schein der Kerzen und schlafen ein, als diese erloschen sind.
Das Heulen, das sie spät in der Nacht hören, führen sie auf den Wind zurück, der über die Mauerkrone pfeift. Bei Tagesanbruch dann finden sie Schwester Isaura, deren Lager kalt war, mit aufgeschlitztem Unterleib an die niedere Tür des Schweinestalls genagelt. Auch ihre Augen sind weit aufgerissen.
Allen Tränen und den zahllosen Rosenkranzgebeten und Fürbitten zum Trotz geht es so Nacht für Nacht weiter: zwölf Ritualmorde, zwölf Nonnen, die man bei Tagesanbruch auffindet, von jenem Untier an Leib und Seele misshandelt.
Am Morgen des dreizehnten Tages hat Mutter Isolde ihre jüngste Novizin, Schwester Bragantia, begraben, dann den Schädel und das Satansevangelium samt ihrer Umhüllung an sich genommen und sich mit Mörtel und Ziegeln im Klosterkeller selbst eingemauert. Diese Männerarbeit hat sie den Rest des Tages gekostet.
In der Abenddämmerung hat sie den letzten Stein eingefügt und, schon vom Luftmangel benommen, in die Wand die Warnung geritzt, die in roten Buchstaben auf dem Einband des Buches erschienen war. Darunter hat sie den Namen des Mörders ihrer Nonnen vermerkt und hinzugefügt:
∗ ∗ ∗
IN DIESEN HEILIGEN MAUERN HAT SICH DER
NIEDERTRÄCHTIGE SEELENRÄUBER
NIEDERGELASSEN,
DER GESICHTSLOSE, DAS UNTIER,
DAS NIE STIRBT, DER RITTER
AUS DEM ABGRUND,
ER HEISST KALEB DER WANDERER.
∗ ∗ ∗
Am Schluss hat sie die Bitte angefügt, wer in späteren Zeiten ihre Überreste auffinde, möge das Evangelium und den Knochenschädel des Erlösers den zuständigen Vertretern der römisch-katholischen Kirche zur Weiterleitung an Seine Heiligkeit übergeben, sei es in Avignon oder in Rom, doch an niemanden sonst. Sollte sich aber zeigen, dass die Kirche den Schwarzen Tod nicht überdauert habe, möge man alles in ein Schmiedefeuer werfen.
Jetzt wartet sie auf den Einbruch der Nacht und das Aufwachen des Seelenräubers.
13
Es war immer in der Stunde der Abenddämmerung geschehen, wenn die Schatten des Glockenturms auf den Friedhof fielen. Am Abend des zwölften Tages hat sich Mutter Isolde, die mit Schwester Bragantia Zuflucht im höchsten Raum des Bergfrieds gesucht hatte, an ein Fenster gestellt, von dem aus der Blick auf die Gräber ihrer ermordeten Mitschwestern fiel.
Im Laufe der Mordnächte waren die Gräber eins nach dem anderen entweiht worden, so, als sei die jeweils am Vortag Getötete aus der Erde emporgestiegen, um die nächste umzubringen. Dieser verrückte Gedanke ist Mutter Isolde an dem Morgen gekommen, als sie Schwester Klementias Leichnam über den Boden zerrte und dabei entdeckte, dass das Grab von Schwester Edith, die am Vortag umgebracht worden war, offen stand. Lehmige Fußabdrücke auf dem Boden des Gangs führten zu Schwester Klementias Zelle. Gemeinsam mit Schwester Bragantia hatte Mutter Isolde auch diese Schwester beerdigt, und nun beobachtete sie ihr Grab, das ein Stück von den Gräbern der anderen entfernt liegt, um die Zeit der Abenddämmerung. Im Mondschein glaubte sie, sich dort etwas rühren zu sehen. Ein frischer Erdhaufen wölbte sich, als grabe jemand von innen nach außen. Im Halbdämmer waren dann Finger, Hände, Unterarme und schließlich, nach einem Stück Leichentuch und dem Ärmel eines Totenhemds, ein Gesicht erschienen. Es war das Schwester Klementias. Die Augen waren weit geöffnet, der Mund voller Erde, und die Haare von Lehm verklebt.
Das Wesen, das einst Klementia war, hat das hinderliche Leichentuch von den Schultern geschüttelt. Ein letzter Erdhaufen entstand, als sie sich vollständig aus dem Grabe löste. Den Blick zu Mutter Isolde gehoben, hatte das Wesen, wie sie sich mit Schaudern erinnert, seine Zähne voll Erde entblößt und ihr zugelächelt, bevor es hinkend in der Finsternis des Kreuzgangs verschwand.
Um Mitternacht stöhnte Schwester
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