Das Evangelium nach Satan
von dort aus sein Werk weiter zu betreiben.
Lauter Geschichten, wie man sie von verrückten alten Weibern erwartet. Das jedenfalls versucht sich Maria einzureden, bis sie auf weitere Folien stößt, welche die Nonne sorgfältig in Plastikhüllen aufbewahrt hat. Mit Staunen liest sie, dass amerikanische Forscher im zwanzigsten Jahrhundert eine riesige Überschwemmung wissenschaftlich untersucht haben, die zur Zeit des Mesolithikums um das Schwarze Meer herum stattgefunden haben soll. Für sie gab es nicht den geringsten Zweifel an der Katastrophe. Sie waren überzeugt, dass an dem Tag, an dem unter dem Druck der Fluten die Gesteinsbarriere des Bosporus nachgab, in kurzer Zeit Unmengen von Salzwasser in das Süßwasser des Binnensees geflossen sind, der daraufhin zum Schwarzen Meer wurde. Man müsse sich, hieß es da, diesen Vorgang als Wasserfall vorstellen, vierhundertmal so machtvoll wie die Niagarafälle, der den Wasserspiegel im Laufe von zwei Jahren um volle hundertdreißig Meter habe ansteigen lassen. Diese Katastrophe habe hunderttausend Quadratkilometer Land verwüstet.
Zum Beweis ihrer Behauptungen hatten Archäologen den Sedimentschichten des Schwarzen Meeres mehrere Bodenproben entnommen. Unterhalb einer Tiefe von zweihundertfünfzig Metern, was dem Zeitraum von 7500 bis 7200 vor Christus entspricht, bestanden die Ablagerungen aus abgestorbenen Süßwasser-Schalentieren. Darüber hingegen, in einer Tiefe, die dem Zeitraum von 7000 bis 6500 vor Christus entspricht, habe man ausschließlich Ablagerungen abgestorbener Schalentiere gefunden, wie sie im Salzwasser der Meere vorkommen – ein Beweis dafür, dass sich das Marmarameer in der Tat zwischen 7200 und 7000 vor Christus in den damaligen Binnensee ergossen habe.
Überdies hatten diese Archäologen in einer Tiefe von hundertfünfundzwanzig Metern Paläo-Ufer aus Kies und Ton entdeckt. Das war ihrer Überzeugung nach die Begrenzungslinie des einstigen Binnensees, der sich um das Jahr 7100 vor Christus vergrößert habe, sodass aus ihm das Schwarze Meer wurde. Den Nachforschungen der Nonne zufolge entsprach das genau der Zeit, in der Kains Kinder den Dämon Gaal-Ham-Gaal befreit hatten.
Maria, die inzwischen die Texte nur noch überfliegt, nimmt sich den nächsten wissenschaftlichen Bericht vor. Zwölf Jahre nach den amerikanischen Geologen hatte eine russische Expedition unter der Wasserfläche des Schwarzen Meeres ein Netz von Höhlen entdeckt. Ihre Gänge schienen so weit in die Tiefe der Erde zu reichen, dass kein noch so starker Scheinwerfer deren Schwärze zu durchdringen vermochte. Da die Tauchroboter, die man in diese Gänge geschickt hatte, nicht wiederkehrten, wurden Flaschentaucher mit schweren Bleigürteln und Halogen-Handscheinwerfern hinabgeschickt. Keiner von ihnen wurde je wieder gesehen, bis auf einen, der halb verrückt zurückkam. Hinter der Scheibe seiner Maske sah man, dass ihm Blut aus Mund und Nase lief. Er konnte gerade noch sagen, dass er ganz unten in der Schlucht ein bläuliches Licht gesehen habe, in dessen Schein sich riesige Gestalten bewegt hätten, vielleicht Meeresungeheuer, die dort in der Tiefe gefangen waren. Dann war er unter Zuckungen gestorben. Maria schließt die Augen. Kein Zweifel – die russischen Archäologen hatten die Höhlen von Acheron entdeckt.
19
Mit einem unterdrückten Fluch hebt Maria die Bibel der Kinder Kains vom Boden auf, die ihr entglitten ist. Als sie den Band auf den Tisch zurücklegt, sieht sie, dass sich beim Aufprall einige Nähte des Einbands gelockert haben. Sie tastet vorsichtig unter dem Leder entlang, spürt die unregelmäßigen Ränder von Pergamenten. Vermutlich hat die Nonne sie dort vor den Augen anderer verborgen. Maria nimmt an, dass sie jeden Abend die Fäden vor dem Versteck der Pergamente aufgetrennt hat, um ihre geheimen Schätze hervorzuholen. Wenn der Morgen graute, hat sie sie dann wohl mit einem Goldfaden, der dem Original aufs Haar glich, wieder zugenäht.
Sonderbare rote Linien glänzen auf, oder genauer gesagt in den Pergamenten, als sei es mit der Schreibfeder gelungen, in das Material einzudringen, ohne auf dessen Oberfläche die geringste Spur zu hinterlassen.
Je weiter Maria die Dokumente aus ihrem Versteck herauszieht, desto stumpfer wird der Glanz der roten Linien. Sicher ist sie einer optischen Täuschung erlegen, denn bei genauem Hinsehen zeigt sich, dass auf den Blättern nicht die geringste Spur von Tinte zu sehen ist. Sie hält einen der Bogen vor die
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