Das Evangelium nach Satan
Flamme einer Kerze. Das Licht vermag ihn kaum zu durchdringen. Nach der Dicke des Materials zu urteilen, muss es sich um Pergament bester Qualität handeln, wie man es zwei Arten von Texten vorbehielt: heiligen Schriften und solchen, deren Geheimnisse den Lauf der Zeit unbeschadet überstehen sollten. Doch dies Pergament ist nie beschrieben worden, es weist nicht die geringste Spur der Berührung durch einen Gänsekiel auf.
Dann merkt Maria, dass zwischen ihren Fingern Brandgeruch aufsteigt. Mit einer wüsten Verwünschung dreht sie den Bogen um. Ob die Kerze …? Nein, nicht die geringste Brandspur ist zu sehen. Trotzdem ist Maria sicher, dass die Flamme einige Sekunden lang mit dem Material in Berührung gekommen ist. Sie streicht vorsichtig mit dem Finger darüber und zieht ihn sofort wieder zurück: Das Blatt ist unerträglich heiß.
Während sie das Dokument von der Kerzenflamme entfernt, weiten sich ihre Augen vor Staunen. Es ist, als scheue die Tinte, mit der man das Pergament beschrieben hat, das Licht, oder besser gesagt, als sei sie dafür geschaffen, nur in der Dunkelheit erkennbar zu sein.
Sie bläst die ihr zunächst stehenden Kerzen aus und sieht verblüfft die roten Zeilen aufglänzen, die sie vorher zu sehen gemeint hatte. Dann hält sie beide Hände über das Dokument, um das restliche Kerzenlicht abzuschirmen, und liest laut, was da sichtbar geworden ist.
Am 17. Oktober des Jahres der Gnade 1307 Wir, Mahaud de Blois, Oberin der Weltfernen Schwestern des Klosters unserer lieben Frau vom Mons Cervinus, beginnen heute mit der Übersetzung und Abschrift des überaus entsetzlichen und lästerlichen Evangeliums, das man uns zur Aufbewahrung an diesem heiligen Ort anvertraut hat.
Das Werk, von dem es heißt, der Teufel habe es mit eigener Hand geschrieben, wurde von den Bogenschützen des französischen Königs in den Festungen des in Ungnade gefallenen Templerordens entdeckt. Da jene Ketzer nichts über die darin enthaltenen Geheimnisse hatten verlauten lassen, fällt uns die Aufgabe zu, seinen unseligen Inhalt zu erkunden.
Sobald wir sie erledigt haben, soweit uns das gelingt, ohne darüber den Verstand zu verlieren, soll das verwünschte Werk unter starkem Geleit in die Obhut der Trappistengemeinschaft von Maccagno Superiore gebracht werden, wo man es mit mehreren Schichten Leder einbinden und mit einem vergifteten Florentiner Schloss versehen wird, damit der sichere Tod jeden dahinrafft, der den Versuch unternimmt, an den Inhalt zu gelangen. Wir, Mutter Mahaud de Blois, werden sodann dies Werk mit dem Einverständnis von Papst Klemens und von Monsignore, dem Bischof von Aosta, in den unzugänglichsten Tiefen unseres Felsenklosters am Mons Cervinus verbergen.
Gott möge unsere Augen und unsere Hände bei dieser gefährlichen Unternehmung leiten, und unter Strafe der Zerstückelung unserer Leiber unsere Lippen auf immer verschließen, damit keine der auf jenen Blättern enthaltenen Schändlichkeiten je der Welt zu Ohren gelangt.
Maria wendet sich dem zweiten Pergament zu. Starr vor Staunen sieht sie, dass es sich um eins der Fragmente des Satansevangeliums handelt, das die Nonnen des Felsenklosters am Matterhorn im Mittelalter abgeschrieben haben. Dieser Auszug beginnt mit einer Warnung.
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EVANGELIUM DES SATANS DES
ENTSETZLICHEN UNGLÜCKS,
DER TÖDLICHEN WUNDEN UND DER
GROSSEN KATASTROPHEN.
HIER BEGINNT DAS ENDE,
HIER ENDET DER ANFANG.
HIER RUHT DAS GEHEIMNIS VON
GOTTES MACHT.
ZUM FEUER VERDAMMT SEIEN DIE AUGEN,
DIE ES IN SICH AUFNEHMEN.
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Im Anfang schuf der ewige Abgrund, der Gott aller Götter, die Tiefe, aus der alles entstanden ist, sechs Milliarden Universen mit der Aufgabe, das Nichts zurückzudrängen. Dann gab er jedem dieser sechs Milliarden Universen ein Sonnen-und ein Planetensystem, er gab ihnen Seiendes und Nichtseiendes, Fülle und Leere, Licht und Finsternis. Daraufhin stattete er sie mit dem höchsten Gleichgewicht aus, das dafür sorgt, dass etwas nur dann existieren kann, wenn sein Gegenteil zugleich mit ihm existiert. Auf diese Weise ist alles aus dem Nichts des ewigen Abgrunds hervorgekommen. Und da alles Seiende mit dem zugehörigen Nichtseienden verbunden war, herrschte in allen sechs Milliarden Universen vollkommene Harmonie.
Doch damit all diese zahllosen Dinge des Seienden wie des Nichtseienden ihrerseits eine Vielfalt an Dingen hervorbringen konnten, die Leben erschaffen würden, brauchten sie etwas, das absolutes Gleichgewicht zu erzeugen
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