Das Evangelium nach Satan
deckenhohen Regalen Werke, die Schreiber früherer Jahrhunderte kopiert haben, um ihren Inhalt vor dem Auf und Ab der Zeitläufe zu bewahren. Die dazugehörigen Originale ruhen fest verschlossen in gesicherten unterirdischen Räumen.
Am hinteren Ende des letzten Bibliothekssaals weist ein stählernes Fallgitter, vor dem riesenhafte Gardisten in blauem Wams und einem Helm auf dem Kopf mit gekreuzten Hellebarden Wache halten, darauf hin, dass dort der Bereich beginnt, der ausschließlich einer kleinen Gruppe speziell vereidigter Archivare zugänglich ist. Als die beiden Ballestra kommen sehen, geben sie ihm den Weg frei und öffnen das Gitter. Dahinter führt eine Treppe, deren steinerne Stufen Millionen Sohlen glatt gewetzt haben, ins Geheimarchiv hinab. In den dunklen Räumen jenes unterirdischen Labyrinths bewahrt die römische Kirche seit Jahrhunderten ihre geheimsten Dokumente und Schriften auf.
Unten stößt Monsignore Ballestra eine Stahltür auf, hinter der sich ein riesiger Raum voller Bücherregale und Wandschränke öffnet. Um diese nächtliche Stunde ist dort niemand. Es riecht nach Bohnerwachs. Er bleibt in der Mitte des Raums stehen. Sofern der Superior der Jesuiten von Manaus Recht hatte, müsste sich dort irgendwo der Eingang zur Halle der Siegel befinden.
Der Legende nach war jener Raum im Mittelalter eingerichtet worden, um die von den Kreuzzügen nach Europa gebrachten Schätze aufzubewahren. Angeblich hatte man den Baumeister anschließend eingemauert, damit niemand je das Geheimnis erfuhr. Seither gaben die Päpste es einander über das System des päpstlichen Siegels weiter. Beim Tod eines Papstes erklärte der jeweilige Kardinal Camerlengo die Sedisvakanz – eine Periode der Trauer, in der, weil der Stuhl Petri leer stand, keinerlei wichtige Entscheidung getroffen wurde, bis das Konklave einen neuen Papst wählte. Zu den ersten Amtshandlungen des Camerlengo gehörte es, die päpstlichen Gemächer aufzusuchen und dort den Panzerschrank mit den geheimen Dokumenten zu verschließen, die niemand außer dem nächsten Papst lesen durfte.
Jedes dieser Dokumente war mit einem Wachssiegel verschlossen, das den Abdruck des päpstlichen Siegelrings trug. Da der Camerlengo diesen Ring zerbrach, sobald er das Ableben des Amtsinhabers festgestellt und erklärt hatte, konnte während der Sedisvakanz niemand Geheimdokumente öffnen und erneut versiegeln.
Sobald der Nachfolger auf dem Stuhl Petri feststand, fertigten die Goldschmiede des Vatikans einen Siegelring für ihn an. In Begleitung des Camerlengo suchte der neue Papst daraufhin seine Gemächer auf und überwachte das Öffnen des Panzerschranks, um sich zu vergewissern, dass kein Siegel gebrochen war. Danach konnte er die Siegel von Dokumenten öffnen, die er lesen wollte, und sie anschließend mit seinem eigenen Siegel erneut verschließen. Auf diese Weise war sichergestellt, dass niemand außer ihm Zugang zu den Geheimdokumenten hatte. Außerdem ließ sich anhand des jeweiligen Siegels sagen, welcher Papst ein solches Dokument zuletzt in Händen gehabt hatte. Dazu brauchte er lediglich im Buch der päpstlichen Siegel nachzusehen.
Dank dieses ausgeklügelten Verfahrens hatten die Päpste über die Jahrhunderte hinweg ihren Nachfolgern Geheimnisse weitergeben können, die niemand außer ihnen wissen durfte. Dazu gehörten neben der Enthüllung der zwölf großen Mysterien, den Warnungen der Jungfrau Maria, dem Geheimcode der Bibel und den Sieben Siegeln der Apokalypse auch vertrauliche Berichte über Verschwörungen im Vatikan.
Dieses System ermöglichte es einem Papst, seine Nachfolger vor Gefahren zu warnen, denen er sich ausgesetzt gesehen hatte.
Da die Päpste aber ihren Nachfolgern gewöhnlich eine größere Zahl von Geheimnissen anzuvertrauen wünschten, kam irgendwann ein Zeitpunkt, an dem der Safe überquoll. Dann suchte der jeweilige Papst, wie es hieß, von seinen Gemächern aus durch einen Geheimgang jene Halle der Siegel auf, um dort einen Teil der Dokumente zu lagern. Diesen von zahlreichen Legenden umrankten Raum, den manche unter dem Petrus-Grab, andere in Roms Katakomben und wieder andere sogar in den Abwasserkanälen der Stadt vermuteten, versucht Ballestra jetzt zu finden. Voll innerer Unruhe nähert er sich dem riesigen Regal am hinteren Ende des Raums. Dort bewahrt die Kirche den größten Teil ihrer Original-Handschriften auf. Es ist gewissermaßen die Datenbank der Archivare.
Während er davorsteht und sich zu konzentrieren
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