Das Evangelium nach Satan
versucht, hört er aus der Ferne die Glocken von Santa Maria Maggiore. Die von San Lorenzo Fuori Le Mura antworten. Mit der von Carzo gefaxten Zitatenliste in der Hand ersteigt er eine der Bibliotheksleitern und findet, da er sich im ausgeklügelten Ordnungssystems des Archivs bestens auskennt, ohne Mühe die auf der Liste vermerkten Werke. Es sind sieben staubbedeckte Folianten, die er einen nach dem anderen einige Zentimeter vorrückt. Das leise Klicken, das jedes Mal ertönt, zeigt ihm an, dass das Buch mit seinem Gewicht einen Federmechanismus niedergehalten hat.
Um den letzten Band zu bewegen, der auf einem der unteren Regalbretter steht, steigt er von der Leiter. Kaum hat er das Buch nach vorn gezogen, als ein dumpfes Knarren ertönt. Ihm folgt ein langgezogenes Knirschen von Achsen und Seilscheiben, das aus den Tiefen des Mauerwerks zu kommen scheint. Rasch tritt Ballestra einige Schritte zurück, als er sieht, wie sich das schwere Regal in der Mitte teilt. Staub wirbelt auf, dann ist der Weg zur Halle der Siegel frei. Aus dem Gang dorthin weht ihm abgestandene, muffige Luft entgegen.
6
Mit angehaltenem Atem, als fürchte er, die Luft könnte vergiftet sein, durchschreitet Monsignore Ballestra die von den beiden Regalhälften freigegebene Öffnung. Er hat dabei das unangenehme Gefühl, eine unsichtbare Grenze zwischen zwei einander feindlichen Welten zu überqueren.
Kaum hat er hinter der Regalwand einen Fuß auf den Boden gesetzt, als er hört, wie die sieben Bände einer nach dem anderen wieder an ihren Platz gleiten. Dann folgt eine Reihe dumpfer Schläge, und die Regalhälften fahren mit dem gleichen Geräusch wie beim Öffnungsvorgang in ihre ursprüngliche Stellung zurück. Mit ausgedörrter Kehle wendet sich Ballestra um. Ein letztes Mal sieht er das Licht des Archivsaals, dann ist die Lücke geschlossen, das Räderwerk steht still, und die Metallkeile fallen wieder in ihre Aussparungen. Der Mechanismus ist gesperrt. Diese automatische Verriegelung ist ein Hinweis darauf, dass es einen weiteren Gang geben muss, da der Weg von der Bibliothek aus lediglich in die Halle hineinführt, auf keinen Fall aber hinaus.
Monsignore Ballestra schaltet seine Taschenlampe ein und sieht, dass er sich entgegen seiner Annahme noch nicht in der Halle der Siegel befindet, sondern in einem schmalen mannshohen Gang, der sich unter dem Vatikan entlangschlängelt und ziemlich lang zu sein scheint. Die Baumeister des Mittelalters haben ihn mittels kräftiger Balken abgestützt.
Er zählt dreihundert Schritte in Richtung auf die Peterskirche. Mit einem Mal scheint das Geräusch seiner Sandalen auf dem Boden lauter zu werden, die Wände des Gangs weichen zurück, und die Luft ist kühler. Allem Anschein nach hat er die Halle der Siegel erreicht. Er bleibt stehen und leuchtet den ziemlich niedrigen Raum mit seiner Lampe ab.
Er ist weit größer, als er angenommen hatte, etwa vierzig Meter lang und zwanzig breit. Das Gewölbe stützt sich auf zwei Pfeilerreihen, die ohne Weiteres den Druck von Tausenden Tonnen aushalten können. Monsignore Ballestra hat jeden Grund zu der Annahme, dass man diesen Raum unter den Fundamenten eines bereits bestehenden Gebäudes angelegt hat – in diesem Fall der ursprünglichen Basilika des heiligen Petrus – und die Baumeister dafür gesorgt haben, alles so fest zu gründen, dass im Boden des darüber liegenden Gebäudes keine verräterischen Risse auftreten konnten.
Während er durch die Halle geht, sieht er an den weiß gekalkten Granitwänden im Licht seiner Lampe eine Vielzahl farbiger Abbildungen. Es sind Darstellungen aus früheren Jahrhunderten, die den Kampf der Erzengel gegen die Kräfte des Bösen zeigen. Ein Stück weiter bilden riesige Gemälde, deren Farbschicht zahlreiche Risse aufweist, Szenen aus den großen Prozessen der Inquisition ab: Hier werden Ketzer auf der Streckbank gefoltert, dort bricht man ihnen die Knochen, an einer anderen Stelle hat man ihnen eine weißglühende eiserne Maske aufgesetzt oder ihre Arme auf einen rotglühenden Rost gelegt, wobei man das brennende Fleisch mit dem herausgelaufenen Fett begießt.
Ballestra richtet seine Lampe auf die gegenüberliegende Wand. Dort stehen hinter den Pfeilern Schreibpulte aus massivem Holz und purpurn ausgeschlagene Regale in Marmornischen. Sie enthalten das Geheimarchiv der Päpste von Leo dem Großen bis zu Johannes Paul II. Ihm fällt auf, dass etwa dreißig dieser Nischen in schwarzem Marmor gehalten sind.
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