Das Evangelium nach Satan
ausgestoßen hatte. Und das Evangelium des Bösen, das seine Geschichte bezeugte, existierte ebenfalls.
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Ballestra tritt zu den Nischen der Nachfolger Leos des Großen und durchsucht eine nach der anderen. Er entrollt eine große Anzahl von Pergamenten auf den Schreibpulten, um sie im Licht der Taschenlampe zu lesen. In der Nische des Papstes Paschalis II. stößt er wieder auf die Spur der Handschrift.
Fast siebenhundert Jahre lang war das Satansevangelium in Vergessenheit geraten – bis es ein gewisser Wilhelm von Sarkopi, Hauptmann in der Nachhut des ersten Kreuzfahrerheeres, mit dem der Normannenfürst Bohemund ins Heilige Land zog, im Jahre 1104 entdeckte, und zwar in dem Kloster nahe Aleppo, wohin Papst Leo es zur Aufbewahrung hatte schicken lassen. Es lag halb im Sand vergraben, rings von den Gerippen seiner Bewacher umgeben. Sarkopi teilte dem Papst am 15. September jenen Jahres brieflich seine Entdeckung mit:
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Eure Heiligkeit, wir sind heute in der Nähe von Aleppo auf ein Klostergebäude mit Lehmwänden gestoßen, dessen lediglich elf Insassen Opfer einer unbekannten Krankheit geworden zu sein scheinen. Keiner der Mönche meiner Begleitung hat je ein Wappen wie das dieser Gemeinschaft gesehen, und so könnte man glauben, dass es einen solchen Orden nie gegeben hat, es sei denn, mächtige Prälaten hätten ihn insgeheim ins Leben gerufen. Ich zeichne es Euch auf, damit Ihr seinen Ursprung feststellen könnt. Noch merkwürdiger kommt es uns vor, dass diese Bruderschaft, deren Angehörige sich »Archivare« nannten, keinen anderen Daseinszweck gekannt zu haben scheint als die Bewahrung alter Handschriften, deren Ursprung im Orient liegen dürfte und die das Zeichen des Tieres tragen, denn solche Werke haben wir in Höhlen unterhalb des Klosters gefunden. Um eines davon, das besonders verrucht ist, waren die Leichen der Mönche kreisförmig angeordnet geschart, als hätten sie es bis zum letzten Atemzug beschützen wollen.
Offenbar konnte ihr Pater Superior vor seinem Tod noch eine Botschaft in den Sand ritzen. Der Knöchel seines Zeigefingers liegt dort, wo ihn seine Kraft verließ und er den letzten Buchstaben geschrieben hatte. Dank der völligen Trockenheit in den Höhlen und weil kein Wind dort hineindringt, sind die Schriftzüge erhalten geblieben. Nachfolgend teile ich Euch mit, was mir einer meiner italienischen Lanzenreiter übersetzt hat, denn allem Anschein nach ist die Botschaft in der Sprache der genuesischen Söldner abgefasst.
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Während Ballestra das Pergament mit einem Rascheln ein Stück weiter schiebt, überfliegt er die von Sarkopi überlieferte Botschaft, die jemand ein knappes halbes Jahrhundert zuvor in den Sand geritzt hatte.
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Am 13. August 1061. Wir, Bruder Guccio Lega de Palissandre, Ritter des dem Heiligen Stuhl unterstehenden Ordens der Archivare, teilen mit, dass eine unheilbare Krankheit unsere Gemeinschaft befallen hat und ich als deren einziger Überlebender ebenfalls im Sterben liege. Ich bitte, dass, wer immer meine sterbliche Hülle findet, die Handschrift, die ich mitten zwischen unsere Leichen gelegt habe, mit äußerster Vorsicht behandelt. Es ist das Werk des Bösen und muss unverzüglich zur nächstgelegenen Festung der Christenheit geschafft werden, denn nur deren Mauern können es vor den Augen der Gottlosen bewahren. Von dort soll es unter starker Bewachung nach Rom gebracht werden, wo allein Seine Heiligkeit darüber befinden kann, was damit zu tun ist. Ich bitte inständig, dass niemand die nicht wiedergutzumachende Freveltat begeht, dies Buch zu öffnen. Wer es dennoch tut, dessen Augen werden versengt und seine Seele auf alle Zeiten verdammt.
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Ballestra lässt das Pergament zu Boden fallen und liest in fieberhafter Eile die Fortsetzung der von Sarkopi nach Rom geschickten Mitteilung.
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Eure Heiligkeit, gemäß dieser Aufforderung habe ich die Handschrift in eine Tuchhülle wickeln lassen und bringe sie jetzt unter starker Bewachung in die Festung des heiligen Johannes von Akkon, die König Balduin unlängst den Sarazenen entrissen hat. Dort werde ich auf Eure Anweisungen warten, was weiterhin mit diesem Werk zu geschehen hat. Ich wage zu sagen, dass es seine Bewacher getötet hat, so voll scheint es mir von Gotteslästerung und Frevelhaftigkeit zu sein.
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Als Nächstes entdeckt Ballestra unter den Dokumenten in der Nische eine von einem Band zusammengehaltene Pergamentrolle. Es ist ein
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