Das Evangelium nach Satan
enthaltenen Geheimnisse seinen Zwecken dienlich sein könnten, bevor es auf alle Zeiten in den Verliesen des Vatikans verschwand. Also schloss er sich, nachdem er dem Heiligen Vater den Empfang seiner Botschaften bestätigt hatte, mit den Besten seiner Tempelritter in den Tiefen der Festung ein, wo sie sich ausführlich mit der Handschrift beschäftigten.
Als Nächstes entdeckt Ballestra einen großen, mit einem Wachssiegel verschlossenen Umschlag. Er enthält rund fünfzig Pergamente mit den Notizen, die sich de Sablé bei seinem gründlichen Studium des Werks gemacht hatte.
Aus der anfänglich kühnen Schrift des Templers wird nach und nach eine Art Kritzelei. Daraus schließt Ballestra, dass der Großmeister im Verlauf der Zeit entsetzliche Angst gelitten haben muss. Er hatte das Buch als »verworfen« bezeichnet, erklärt, darin sei die Rede von einem Ungeheuer, das am Kreuz die Stelle Christi eingenommen habe – Janus, der Sohn des Satans, statt Jesus, der Sohn Gottes. Des Weiteren hatte er geschrieben, einige Jünger hätten den römischen Legionaren, welche die Kreuzigung beaufsichtigten und Zeugen der Abwendung Christi von Gott geworden seien, die Kehle durchgeschnitten, den Leichnam des Janus an sich gebracht und seien dann damit entflohen. Zum Schluss hatte de Sablé erklärt, die Stunde des Tieres sei nahe und kein Gebirge sei hoch genug, um den Sturm aufzuhalten, der sich erheben werde.
Die letzten der von de Sablé beschriebenen Pergamente sind mit einer fortlaufenden Kette winziger Buchstaben ohne Punkt und Komma, ohne Zeilenabstände oder Einrückungen bedeckt. Auf ihnen hatte der Großmeister der Templer mitgeteilt, er sei gegen Ende des Buchs auf ein so entsetzliches Geheimnis gestoßen, dass er es nicht über sich bringe, es niederzuschreiben. Er werde aber noch am selben Tag eine Abteilung seiner Ritter an einen fernen Ort im Norden des Heiligen Landes schicken, die feststellen sollten, ob sich der Beweis für das dort Geschriebene finden lasse.
Seine letzten Worte sind ein solcher Verzweiflungsschrei, dass Ballestra, während er sie mit leiser Stimme vor sich hin sagt, begreift: Der Mann hat den Verstand verloren. Sie lauten: »Gott ist in der Hölle. Er gebietet den Dämonen und den Seelen der Verdammten. Er gebietet den Geistern, die in der Finsternis umherirren. Alles ist falsch. O Herr! Alles, was man uns gesagt hat, ist falsch!«
Noch eine weitere Pergamentrolle entdeckt der Archivar. Mit zitternden Fingern löst er das Band, das sie zusammenhält. Es ist ein Brief, den Umberto di Brescia, Hauptmann der Ritterschaft der Archivare, wenige Stunden vor seinem Tod an den Papst gerichtet hat.
Ballestra lässt sich im Schneidersitz auf den Boden nieder und liest sich den Inhalt vor, so, als gehe der Absender ihn selbst noch einmal durch, bevor er ihn nach Rom absendet.
11
Eure Heiligkeit, nachdem wir im ägäischen Meer einen heftigen Sturm überstanden haben, erreichten wir schließlich am Abend des dreiunddreißigsten Tages unserer Reise die Küste des Heiligen Landes. Von der Landzunge vor Haifa aus sahen wir über der Festung von Akkon eine schwarze Rauchsäule. Schon zuvor hatten sich dichte Schichten von Asche auf unsere Segel gelegt. Bald darauf erkannten wir den Ursprung des entsetzlichen Gestanks, den der Wind seit einer Weile zu uns herübertrug: Diesen ungeheuren Brand nährte das Fett von Menschen. Etwas später nahmen wir sonderbare Stöße gegen den Rumpf unseres Schiffes wahr. Als wir uns über die Reling beugten, erfasste uns das Grauen. Der Bug unseres Schiffes bahnte sich seinen Weg durch einen Ozean von Leichen. Ihre Zahl war so groß, dass man zwischen ihnen kaum noch das Wasser sehen konnte. Schließlich gelangten wir in den Hafen von Akkon, dessen Wasser buchstäblich dampften. Die von einer Aschewolke eingehüllte Festung glich einer Höllenburg, von deren Mauern in Rüstungen gekleidete Dämonen immer noch mehr Leichen hinabwarfen. Es war ein solches Ausmaß an Grausamkeit, dass wir einander zuflüsterten, der Teufel müsse sich Akkons bemächtigt haben. Vor den Mauern angekommen, haben wir darum ersucht, vom Großmeister der Templer empfangen zu werden, der durch Euer Schreiben von unserer Ankunft in Kenntnis gesetzt war. Ein Reiter entfernte sich im Galopp in Richtung auf den südlichen Teil der Stadt, denn dort hatten die Tempelritter ihr Lager aufgeschlagen. So mussten wir eine volle Stunde warten, bis eine Botschaft uns aufforderte, den Fuß der Festung
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