Das Evangelium nach Satan
entrollt er mehrere Arme voller Pergamente und überfliegt sie im Schein seiner Taschenlampe.
Nach dem Massaker, das die Tempelritter in Akkon an den Archivaren verübt hatten, hat ein volles Jahrhundert lang niemand etwas von dem Satansevangelium gehört. Es ist eine Zeit großen Kummers und großer Pein, denn die Kreuzfahrer müssen nach und nach alle befestigten Plätze im Heiligen Land aufgeben. Es ist aber auch eine Zeit, in der sich die Tempelritter auf ungeahnte Weise bereichern und sagenhafte Schätze anhäufen, die schon bald die Begehrlichkeit ihrer mächtigen Schuldner herausfordern.
Im Verlauf jenes Jahrhunderts unterwanderte der Templerorden den Vatikan, indem er Bischöfe und Kardinäle auf seine Seite zog. Ihnen allen wurde die fürchterliche Lüge enthüllt, auf die de Sablé bei der Lektüre des Satansevangeliums gestoßen war. Ohne jemandem zu zeigen, dass sie zur Partei der Templer gehörten, bereiteten sich die Überläufer darauf vor, die Macht in der Kirche an sich zu reißen.
Ballestra entrollt weitere Pergamente. Sein Atem stockt, als er entdeckt, auf welche Weise man schließlich die Macht des Templerordens gebrochen hatte.
Am 16. Juni 1291, also rund hundert Jahre nach der Einnahme Akkons durch Richard Löwenherz, eroberte der ägyptische Mamelucken-Sultan Al-Ashraf die von den Christen gehaltene Festung zurück. Während seine Heere sie wochenlang berannten, begruben die Tempelritter, die Johanniter und der Deutsche Ritterorden ihre Uneinigkeit und Eifersüchteleien, um die von den Sarazenen in die Mauern gerissenen Breschen gegen eine fünfzigfache Übermacht zu verteidigen.
Mit dem Fall von Akkon, Sidon und Beirut waren die Kreuzzüge zu Ende und das Heilige Land für die Christenheit verloren. Daraufhin ließen sich die Tempelritter in Frankreich nieder, dem Land ihres Erzfeindes, König Philipp IV., genannt der Schöne, der ihnen ungeheure Beträge schuldete. Das erwies sich als Fehler.
Die Schlinge um ihren Hals begann sich zuzuziehen, nachdem am 5. Juni 1305 der mit dem König Frankreichs befreundete Bertrand de Got zum Papst gewählt wurde. Er nahm den Namen Klemens V. an und verlegte seine Residenz nach Avignon. Mit einem Schreiben vom 11. August 1305 ordnete er mehrere Untersuchungen der Inquisition gegen die Templer an, von denen es hieß, sie stünden mit dem Teufel im Bunde.
In einem ersten Bericht des Inquisitors Adhemar von Monteil vom 12. Oktober hieß es, die Tempelritter seien von Gott abgefallen, verehrten nunmehr den bocksköpfigen Baphomet und trügen sogar insgeheim sein Bildnis auf einem Medaillon unter dem Waffenrock. Auch habe der Orden den Vatikan unterwandert, dessen Würdenträger sich in geheimen Räumen der Templerburgen versammelten, um den Sturz der Herrschaft des Papstes vorzubereiten. Besonders hervorgehoben wurde in dem Bericht der Hinweis, im Besitz des Großmeisters der Templer Jacques de Molay befinde sich ein während der Kreuzzüge entdecktes verfemtes Evangelium, dem der Orden seine außerordentliche Macht und unermesslichen Reichtümer verdanke. Als sich daraufhin Inquisitoren mit den Archivunterlagen jener Zeit beschäftigten, stießen sie auf den Brief, den Hauptmann Umberto di Brescia wenige Stunden, bevor de Sablés Templer seine Männer und ihn selbst ins Jenseits beförderten, an den Papst geschickt hatte.
Nach diesen Enthüllungen war das Schicksal des Templerordens besiegelt. Abgesandte des Papstes und des französischen Königs trafen an einem geheimen Ort zusammen, um zu entscheiden, auf welche Weise er zu entmachten sei. Dabei wurde vereinbart, dass der König den Schatz des Ordens und die Kirche das bewusste Evangelium bekommen solle. Nachdem alles geregelt war, wurden im Morgengrauen des 13. Oktober 1307 sämtliche auf französischem Boden befindlichen Templer eingekerkert.
Erneut richtet Ballestra den Lichtkegel in die Nische des Papstes Klemens V. Vier Pergamente liegen noch darin. Er nimmt aufs Geratewohl eins davon heraus und öffnet es.
Am 15. Oktober 1307, zwei Tage nach der Einkerkerung der Tempelritter, übergaben Beauftragte des französischen Königs in einem Schloss nahe Annecy Abgesandten Seiner Heiligkeit das Evangelium. Noch am selben Abend trat es seinen Weg zum Kloster Unserer Lieben Frau der Weltfernen Schwestern am Mons Cervinus an.
Das nächste Pergament ist ein Geheimbericht vom 21. Oktober 1307, den die Nonnen lediglich fünf Tage nach Eintreffen der Handschrift in ihrem Felsenkloster an den Vatikan
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