Das Evangelium nach Satan
das Risiko auf sich genommen, auf die Anzeige zu antworten, die das bedauernswerte Geschöpf am Tag vor ihrem Tod in der Zeitung von Hattiesburg aufgegeben hatte.«
»Soll das heißen, Kaleb wusste, dass ihm die Polizei auf den Fersen war?«
»Solche Vorstellungen haben in seinem Kopf keinen Platz. Sagen wir, er hatte Ihre Gegenwart gespürt und wusste, dass Sie sich auf seine Spur setzen würden.«
»Das ist doch alles Mumpitz.«
»Leider nicht. Kaleb wusste sehr wohl, dass niemand außer Ihnen imstande war, ihn binnen weniger Stunden zu finden. Gewöhnliche Polizeibeamte hätten dazu den Wald wochenlang durchkämmen müssen. So, und jetzt wissen Sie auch, warum er Sie nicht getötet hat: Er wollte Sie gleichsam zwingen, die Fährte der Weltfernen Schwestern bis zurück zum Satansevangelium zu verfolgen. Nur Sie verfügen über die Fähigkeit, die Handschrift aufzuspüren, und das weiß er genau.«
»Sitze ich etwa deswegen hier im Flugzeug? Um eine verfemte Handschrift aufzuspüren, die der Kirche angeblich im finsteren Mittelalter abhanden gekommen ist? Ich weiß ja nicht mal mehr, mit welcher Hand man sich bekreuzigt.«
»Ist Ihnen bekannt, dass König Herodes die drei Weisen aus dem Morgenland dafür bezahlt hatte, dass sie das Jesuskind töteten?«
»Und?«
»Nun, Gott hat sie selbst an die Krippe geführt, in der Sein Sohn zur Welt gekommen war, damit sie ihr Vorhaben bereuten und davon abließen. Er wäre ihm ein Leichtes gewesen, sie in der Wüste verdursten oder durch umherstreifende wilde Hunde zerreißen zu lassen. Aber nein. Er hat sie an die Krippe des neugeborenen Kindes geleitet, damit sie Reue empfanden und sich von Herodes abwandten.«
»Und wozu das alles?«
»Um zu zeigen, dass Seine Wege unerforschlich sind, mein Kind. Am liebsten bedient Er sich der Ungläubigen, um Seine Ziele zu erreichen – das ist eine Kunst, die Er sozusagen aus dem Effeff beherrscht.«
16
Im Vatikan, sieben Uhr.
∗ ∗ ∗
Am Boden der Peterskirche kniende Kardinäle sehen schweigend zu den Marmorsäulen über dem Grab des Apostels Petrus hinüber. Zwischen diesen Säulen ist Monsignore Ballestra an ein Eichenkreuz geschlagen, das an Seilen hängt. Lange Nägel haben Hände und Füße des Archivars durchdrungen. Blut läuft aus diesen Wunden wie auch von seinem Hals – ein Hinweis darauf, dass sein Tod noch nicht lange zurückliegt.
Schweizergardisten auf dem Weg zur Ablösung haben den Ermordeten entdeckt, weil sie am Fuß des Altars eine Blutlache sahen. Daraufhin hat ihr Kommandant sogleich den Kardinal Camerlengo Campini geweckt. Nachdem dieser seinerseits Kardinal Camano benachrichtigt hatte, pflanzte sich die Nachricht von einem Telefon zum anderen fort, bis die Präfekten aller neun Kongregationen von der ruchlosen Tat in Kenntnis gesetzt waren.
Gerade haben Schweizergardisten den Leichnam vom Kreuz abgenommen, und der Kreis der Prälaten schließt sich um Ballestras auf dem Marmorboden ausgestreckte sterbliche Hülle. Camano lässt sich auf ein Knie nieder, beugt sich über den Toten und fragt den Kommandanten der Garde, einen Hünen mit Doggengesicht und kalten Augen: »Hat man ihn hier getötet?«
»Man hat außer der Lache unterhalb des Opfers keinerlei Blutspuren gefunden. Wir wissen lediglich, dass die Wache am Gitter zum Archiv gesehen hat, wie Monsignore Ballestra gegen halb zwei heute Nacht hineingegangen ist. Er sei, sagen sie, nicht von dort zurückgekommen.«
»Dann hat man ihn wohl dort getötet.«
»Das hatten wir angenommen. Wir haben aber in jenem Raum des Archivs nichts gefunden, was darauf hinweist – weder Blut noch Spuren eines Kampfes.«
Verblüfft berührt Camano mit den Fingerspitzen Ballestras Augenlider. Da sie ihm sonderbar schlaff erscheinen, schiebt er sie zwischen Daumen und Zeigefinger vorsichtig nach oben. Winzige Blutfäden laufen über die weißen Schläfen des Toten. Während sich unter den entsetzten Kardinälen Gemurmel erhebt, beugt sich Kardinal Camano vor, um sich die leeren Augenhöhlen näher anzusehen. Er muss unwillkürlich daran denken, dass im Mittelalter die Inquisition durch Blendung jene bestrafte, die sich des fluchwürdigen Verbrechens schuldig gemacht hatten, verbotene Schriften zu lesen.
Jetzt legt er eine Hand unter Ballestras Kinn und versucht, seinen Mund zu öffnen. Kaum geronnenes Blut bedeckt die Kehle des Archivars. Er leuchtet ihm mit einer Taschenlampe in den Mund und sieht, dass die Zunge bis auf einen kleinen Rest fehlt. Man
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