Das Evangelium nach Satan
»Hören Sie mir gut zu. Ich habe nur wenig Zeit. Die Seelenräuber kommen näher. Sie sind auf der Suche nach Ihnen. Vier Frauen werden verschwinden. Man wird Sie mit der Untersuchung beauftragen. Sie dürfen auf keinen Fall in den Wald gehen. Hören Sie mich? Gehen Sie auf keinen Fall in den Wald!«
»Warum nicht?«
»Weil Sie die fünfte Gekreuzigte sind.«
Maria verdrückt eine Träne. Wenige Tage später hatte sich die Bedauernswerte umgebracht. Man hatte bei ihr Hefte voller Zeichnungen dessen gefunden, was sie gesehen hatte: gekreuzigte alte Frauen, geöffnete Gräber und ganze Wälder von Kreuzen. Das und mehrere Skizzen von einer Art Festung unmittelbar unterhalb eines Berggipfels, ein Kloster. Das der Weltfernen Schwestern am Matterhorn.
Maria schließt die Augen. Sie muss dem Exorzisten innerlich recht geben: Als Kaleb die vier Frauen aus Hattiesburg verschleppt und ihre Kleider am Waldrand verstreut hatte, war ihm bewusst gewesen, dass Sheriff Bannerman Maria Parks anrufen würde. Nur um das zu erreichen, hatte er Rachel getötet.
Erschöpft von ihren Erinnerungen ist sie eingeschlafen. Als sie einige Stunden später wach wird, setzt die Maschine zum Sinkflug an.
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TEIL ACHT
1
Venedig, dreizehn Uhr
Sie kommen in Motorbooten, in deren getönten Scheiben sich das trübe Wasser der Lagune spiegelt, und steigen am Anleger des Palazzo Canistro aus.
Venedig haben sie als Ort ihrer Zusammenkunft gewählt, weil dort der Karneval in vollem Gang ist und sich daher niemand wundern wird, inmitten der stilvollen Kostüme und Larven jener, die sich in den Gassen und auf den Brücken der Stadt drängen und bis zum Morgengrauen auf privaten Bällen tanzen werden, sieben Gestalten in schwarzen Umhängen und mit silbernen Masken vor dem Gesicht zu sehen.
Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, treffen sie zu unterschiedlichen Zeiten ein. Keiner weiß, wer die anderen sind, hat in diesem Kreis nie deren Gesicht gesehen oder deren Stimme gehört.
Niemand ahnt, dass die sieben Maskenträger, die da in ihrer altmodischen Kleidung über den Anleger auf den Palazzo zugehen, an dessen Eingang Diener sie willkommen heißen, zu den mächtigsten Kardinälen der Christenheit gehören, die auf die Einladung zum Konzil hin ihre Bistümer in den fernsten Winkeln der Erde verlassen haben. Sie kommen aus Australien, Brasilien, Südafrika oder Kanada. Niemand darf wissen, wozu sie sich einmal im Jahr irgendwo auf der Welt in einem Palasthotel oder einem schlichten Haus auf dem Lande treffen, und jedes Mal wird ihnen dieser Ort erst im letzten Augenblick bekannt gegeben. Sie reisen grundsätzlich inkognito zu den geheimen Zusammenkünften ihrer Bruderschaft und treffen am Bestimmungsort maskiert und mit elektronischen Geräten ein, die den Klang ihrer Stimme verzerren. Nicht nur kennen sie einander nicht – sie haben nicht einmal den Wunsch zu wissen, wer die anderen sind. Diese Geheimhaltung ist für den Fortbestand der Bruderschaft vom Schwarzen Rauch des Satans von höchster Bedeutung.
Die Diener geleiten sie jetzt in private Salons, wo man ihnen einen Imbiss serviert, während sie darauf warten, dass die Besprechung beginnt. Ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln, lassen sie sich in tiefe Sessel sinken.
Eine Stunde später kommt der Großmeister der Bruderschaft an Bord eines schnellen Bootes, dessen Führer nicht einmal den Motor abstellt. Vier als arlecchini verkleidete Schweizergardisten fahren den Landesteg aus und beobachten von Bord aus die Umgebung, während der Großmeister im Palazzo verschwindet. Der Oberdiener geleitet ihn in den Raum, in den man die anderen geführt hat, sobald seine Ankunft bekannt geworden war. Die Anwesenden stehen auf und verneigen sich vor dem Eintretenden, dann setzen sich alle an einen gedeckten Tisch. Schweigend genießen sie Wachteln in Weinsoße und Feingebäck. Als der Großmeister mit einem Silberglöckchen das Ende der Mahlzeit anzeigt, verstummt das Klirren von Besteck, und niemand rührt mehr sein Weinglas an.
Nach kurzem Räuspern spricht der Großmeister in seinen hinter der Maske verborgenen Stimmverzerrer: »Meine lieben Freunde. Der Augenblick rückt näher, da endlich ein Papst des Schwarzen Rauchs den Stuhl Petri einnehmen wird.«
Leises Murmeln erhebt sich, während die Masken einander befriedigt zunicken.
»Doch zuvor müssen wir die Herrschaft über das Konklave gewinnen, das heute Abend beginnt. Wie Sie alle wissen, arbeiten wir schon lange
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