Das Evangelium nach Satan
Flugzeug zum anderen hetzen und sonntags mit ihren Kindern Tennis spielen. Gegen ihn liegt nichts vor, er ist vollständig in die Gesellschaft integriert, hat eine Arbeit, die ihn ausfüllt, besitzt ein schönes Haus und einen Sportwagen. Er reist, um seine Spuren zu verwischen und dort zuzuschlagen, wo niemand damit rechnet.
Wer nicht den Auswahlkriterien eines Serienmörders entspricht, für den bedeutet es nicht die geringste Gefahr, einem solchen zu begegnen. Sie können mit ihm sogar Kaffee trinken oder ihn als Anhalter an einer einsamen Landstraße zu sich ins Auto steigen lassen. Bei einem kaltblütigen, reisenden Mörder ist das anders. Er ist ein Untier, das zuschlägt, sobald es Hunger hat, und genau genommen hat es immer Hunger. Mörder diesen Schlages sind Marias Spezialität. Auf der Jagd nach ihnen hat sie Tausende von Kilometern im Flugzeug zurückgelegt, Hunderte von Nächten in Hotels auf der ganzen Welt zugebracht und ihnen unzählige Stunden auf Friedhöfen und in feuchten Wäldern aufgelauert. Dutzende von Leichen und Unmengen von Phantomen haben diesen Weg begleitet. Dieses Wild jagt Maria am liebsten. Maria, die im Schlaf weint und von ihrem eigenen Geheul aufwacht, schweißbedeckt und mit tränennassem Gesicht, stets um dieselbe Stunde: immer um vier Uhr morgens. Es ist die Stunde, in der Special Agent Maria Parks es sich versagt, wieder einzuschlafen.
2
Null Uhr zehn. Maria atmet ruhig und gleichmäßig. Das Schlafmittel hat ihr Gehirn in einen Zustand tiefer Ruhe versetzt. Dort ist alles nebelhaft und farblos, nichts aus der Außenwelt dringt herein. Noch träumt sie nicht. Doch versuchen die Regungen ihres Unbewussten bereits die chemische Schranke des Schlafmittels zu überwinden, wie Schmutzwasser, das aus der Kanalisation durch einen Ausguss nach oben drückt. Erkennbar ist das an den kaum wahrnehmbaren Zuckungen ihrer Finger auf dem Laken, am Zittern ihrer Lider wie auch an den Falten, die sich auf ihrer Stirn bilden. Bald wird Maria aus dem Tiefschlaf in den REM-Schlaf übergehen. Das ist der Augenblick, in dem sich die Ungeheuer, die ihr Unbewusstes bevölkern, ihrer Fesseln entledigen.
Manche Bilder dringen bereits an die Oberfläche vor. Sie sind grau und kalt: ein Bein, das im Wasser treibt, ein undeutlich wahrnehmbares Gesicht, ein Fläschchen voll geronnener Milch, das neben einem Babykörbchen liegt, ausgeschlagene Zähne und grellrote Flecken auf dem Porzellan eines Waschbeckens. Ganz allmählich setzen sie sich zu einem Ganzen zusammen und fangen an sich zu regen.
Mit einem Mal schnürt es Maria die Kehle zusammen. Adrenalin strömt in ihr Blut und erweitert ihre Adern. Jetzt ist es so weit: Der Atem beschleunigt sich, der Puls schlägt ein wenig rascher, die Nasenlöcher weiten sich, die blauen Venen an den Schläfen beginnen zu pochen. Die Bilder werden deutlich und gewinnen Leben. Die Albträume können beginnen. So lebensecht sind sie, dass sogar die Gerüche darin der Wirklichkeit auf das Genaueste entsprechen.
Maria atmet die Luft um sich herum. Die letzten Spuren von Lindenblüten-Shampoo auf ihrem Kissen sind ebenso verflogen wie die des Räucherstäbchens, das sie jeden Abend entzündet, um den Geruch nach kaltem Rauch zu verjagen. Stattdessen riecht sie Kaugummi mit Erdbeergeschmack, Vanille und Granatapfel.
Auch der Tastsinn kommt in ihren Albträumen nicht zu kurz. Sie gaukeln ihr vor, dass alles, was sie berührt, wirklich existiert. Ein Fuß kommt aus dem Bett, senkt sich und streift über den Boden. Statt der Teakdielen ihres Schlafzimmers spürt sie unter der nackten Sohle die raue Berührung billiger Auslegeware.
Dann die Wahrnehmung ihres eigenen Körpers. Der sonderbare Eindruck, dass sie jünger geworden ist und ihr Bauch sich gerundet hat, die Schenkel schlanker geworden sind, die Knie knotiger, die Brüste kleiner und ihr Geschlecht enger, noch unberührt.
Mit einem Finger fährt sie über den Mückenstich in ihrer Kniekehle, der sie juckt. Ein leichter Wadenkrampf und eine Zerrung im Nacken lassen sie das Gesicht verziehen. Den heftigen Drang, sich zu erleichtern, unterdrückt die scheußliche Angst, dafür aufstehen zu müssen.
Jetzt ist es so weit. Ihre Kehle ist ausgedörrt. Sie öffnet die Augen. Das Zimmer hat sich verändert, ist kleiner, dunkler, kälter als sonst. Ein leichter Luftzug lässt die Jalousien an die Scheibe klirren. Im roten Schimmer eines Quarzweckers zeichnet sich die Rundung einer Tasse mit Kamillentee ab. Maria hört das
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