Das Evangelium nach Satan
Sie fährt zusammen: Die Tür zum Refektorium fliegt auf, atemlos kommt eine Nonne hereingerannt. Die anderen lassen die Löffel fallen und sehen zur Oberin hin, die jetzt die Augen öffnet. Dann begreift Maria: Es ist die Nacht des Überfalls auf das Kloster, der 14. Januar 1348, kurz nach dem abendlichen Angelus.
Während die Nonnen laut schreiend den Raum verlassen, bedeckt Maria ihr Gesicht mit den Händen. Sie spürt all die Leiber und Gerüche, die an ihr vorüberziehen. Dann zuckt sie erschreckt zusammen: Eine Hand hat sich auf ihre Schulter gelegt.
6
Valentina richtet ihre Taschenlampe auf Monsignore Ballestras Schreibtisch. Ein Papierstapel hängt sonderbar schief. Sie hebt ihn an und sieht darunter ein Aufnahmegerät, von dem ein Kabel zur Telefonbuchse an der Wand läuft. Ob der Archivar die Gewohnheit hatte, sämtliche Gespräche aufzuzeichnen? Falls ja – aus welchem Grund? Wollte er sich Notizen machen, oder hegte er einen Argwohn? Sie schaltet das Gerät ein, drückt auf die Rücklauftaste und hört aufmerksam zu. Die beiden letzten aufgezeichneten Anrufe stammen von zwei Minuten nach eins und von fünf Uhr dreißig. Letzterer ist vermutlich der zum Archiv. Sie beschließt, sich beide sogleich anzuhören. Sie beginnt mit dem von kurz nach eins. Der Archivar meldet sich mit verschlafener Stimme. Mit wachsendem Staunen nimmt sie zur Kenntnis, was gesagt wird, bis die Stimme des Anrufers im Rauschen der Leitung untergeht. Mit geschlossenen Augen hört sie eine Weile auf ihren eigenen Herzschlag. Falls sie sich nicht einbildet, was sie da gehört hat, geht es hier nicht um ein einfaches Verbrechen, sondern um eine ausgewachsene Verschwörung im Vatikan. Wenn der Fall abgeschlossen ist, wird sie entweder zur Hauptkommissarin befördert oder ist im Leichenschauhaus gelandet.
Sie sieht zum Faxgerät hinüber. Wenn sie Glück hat, war dem alten Archivar nicht bewusst, dass digitale Faxgeräte über einen Speicher verfügen, aus dem man die zuletzt eingegangenen Mitteilungen abrufen kann, und er hat nichts gelöscht. Sie drückt auf einen Knopf. Das Gerät schiebt ein Blatt heraus. Na bitte. Sieben Zitate für sieben Bände, die im Archivsaal auf ihrem Regalbrett einige Zentimeter nach vorn gerückt werden müssen. Sie steckt die Liste ein, wendet sich erneut dem Aufzeichnungsgerät zu und schaltet auf den Anruf gegen Morgen.
Sie hört es längere Zeit klingeln. Jemand atmet. Einen Augenblick lang hofft sie, Ballestras Stimme zu hören, doch dann fällt ihr sein verstümmelter Leichnam ein, den die Polizeiärzte von allen Seiten fotografiert haben. Endlich nimmt jemand ab.
»Hier Archiv.«
Valentina erstarrt. Das ist derselbe knödelige Walliser Akzent. Es ist die Stimme, die sich gemeldet hatte, als sie an Ballestras Telefon auf den Knopf für die Wahlwiederholung gedrückt hatte. Sie sagt: »Erledigt.«
Eine Pause.
»Wer spricht da?«
»Ich.«
»Sie?«
»Ja.«
»Von wo aus rufen Sie an?«
»Aus seinem Zimmer.«
»Sind Sie verrückt geworden? Legen Sie sofort auf, und tilgen Sie alle Spuren. Haben Sie die Liste mit den Zitaten?«
»Ich suche sie.«
»Sehen Sie unbedingt zu, dass Sie sie finden, und dann verschwinden Sie von da, bevor man Sie entdeckt.«
Ein Klicken. Der Mann im Archiv hat aufgelegt. Ein sonderbares, mit Schwindel vermischtes Hochgefühl bemächtigt sich ihrer. Ballestra ist jemandem in die Falle gegangen, nachdem er etwas aufgedeckt hatte, was ihn zum Tode verurteilte. Jetzt ist es ihre Aufgabe festzustellen, was das war. Dazu muss sie das Archiv des Vatikans aufsuchen.
7
»Wachen Sie auf, Maria.«
Als sie die Augen öffnet, sieht sie Carzos Gesicht über sich.
»Schließen Sie die Augen erst wieder, wenn ich es Ihnen sage.«
»Warum?«
»Weil die Nonnen in diesem Raum in jener Nacht zu Tode gequält worden sind. Daher ist dieser Ort für Menschen, die wie Sie über die Fähigkeit verfügen, sie sozusagen wieder ins Leben zu rufen, nicht sicher.«
»Es ist mir vorgekommen wie ein Traum.«
»Es war keiner.«
»Wie bitte?«
»Sie müssen unbedingt verstehen, dass Sie in Ihren Trancezuständen in tödlicher Gefahr schweben. Bedingt durch Ihre Gabe, sind Sie nicht nur in Gedanken dort, sondern mit Leib und Seele. Daher besteht jederzeit die Gefahr, dass Ihnen dort etwas zustößt.«
Sie muss an die entsetzlichen Schmerzen denken, die sie jedes Mal empfindet, wenn sie die Qualen der Opfer von Serienmördern nacherlebt, die sie jagt. Carzo hat Recht: Bei ihren Visionen
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