Das Evangelium nach Satan
Entsetzen fast den Verstand. Auf keinen Fall will sie lebend von Vampiren angefressen werden, die dann ihre Leiche bis auf die Knochen abnagen. Sie stößt einen Wutschrei aus und schiebt den Priester mit aller Kraft voran.
4
Rom, vierzehn Uhr
Valentina Graziano schließt die Tür des Zimmers von Monsignore Ballestra hinter sich. Sie meint dem Geruch, der in der Luft hängt, entnehmen zu können, dass dort ein älterer Herr gelebt hat. Soweit sich im Halbdunkel erkennen lässt, enthält der Raum außer einem Bett mit einer roten Tagesdecke, über dem ein mit verdorrten Palmwedeln geschmücktes Kreuz hängt, einen massiven Schrank aus Kirschbaumholz und einen niedrigen Tisch aus dem gleichen Material. Ein Vorhang trennt eine Art Waschecke ab. Auf dem Schreibtisch liegt neben einem Computer mit Drucker ein Aktenstapel.
Dem Bericht der Gardisten zufolge, die in der Nacht vor dem abgesperrten Teil der Bibliothek zur Wache eingeteilt waren, hatte Monsignore Ballestra den hinter dem Gitter liegenden Teil gegen halb zwei nachts aufgesucht. Auf ihre Frage hin, ob das nicht eine sonderbare Uhrzeit für Bibliotheksarbeit sei, hatte ihr Kardinal Camano erklärt, Ballestra habe an Schlaflosigkeit gelitten, weshalb es durchaus des Öfteren vorgekommen sei, dass er nachts Rückstände aufgearbeitet habe. Valentina hatte dazu nur genickt. Mochte der Kardinal sie ruhig für dumm halten. Gleich nach dem Verlassen der Peterskirche hatte sie sich mit ihrer Wache in Verbindung gesetzt, um sich die Liste der Telefonanrufe durchgeben zu lassen, die der Archivar zwischen neun Uhr abends und ein Uhr morgens bekommen und selbst geführt hatte. Ihr Vorgesetzter, Hauptkommissar Pazzi, hatte sich am anderen Ende der Leitung lustig über sie gemacht.
»Findest du nicht, es wäre besser, wenn ich gleich auch das Weiße Haus abhören lasse?«
»Ich möchte nur wissen, ob jemand das Opfer in den Stunden unmittelbar vor seiner Ermordung angerufen hat. Mir egal, ob das ein Kardinal, ein Astronaut oder ein kanadischer Holzfäller war.«
»Valentina, ich hab dich da hingeschickt, damit sichergestellt ist, dass den Teilnehmern am Konklave nichts passiert, nicht aber, damit du wieder Mist baust wie damals in Mailand oder Treviso.«
»Guido, wenn du wirklich gewollt hättest, das ganz unauffällig über die Bühne gehen zu lassen, hättest du jemand anders als mich hingeschickt.«
»Sieh dich trotzdem vor. Diesmal hast du es nicht mit bestechlichen Richtern oder korrupten Politikern zu tun. Das ist der Vatikan, verdammt noch mal! Also sei höflich zu den Priestern und bekreuzige dich, wenn du an einem Heiligenbild vorbeikommst, sonst lass ich dich zum Personenschutz reuiger Mafia-Paten nach Scorta di Palermo versetzen.«
»Hör auf, mich anzumotzen. Schick mir lieber, was ich haben will.«
»Du gehst mir auf den Geist, Valentina. Wer sagt dir überhaupt, dass es eins ist?«
»Ein was?«
»Ein Verbrechen.«
»Findest du nicht auch, dass jemand ganz besonders verzweifelt sein muss, wenn er sich in zwölf Metern Höhe selbst an ein Kreuz nagelt, nachdem er sich vorher mit eigener Hand die Zunge abgeschnitten und die Augen ausgestochen hat?«
»Na schön. Ich tu, was du sagst, aber du musst mir versprechen, vernünftig zu sein.«
Zehn Minuten später hatte Valentina eine SMS mit der Liste der Anrufe bekommen, die in den letzten Stunden vor seinem Tod bei Monsignore Ballestra eingegangen waren. Die frühesten und zugleich bei Weitem zahlreichsten waren zwischen einundzwanzig und zweiundzwanzig Uhr gekommen – in erster Linie interne Anrufe aus dem Vatikan, einige aus Rom, und eine gewisse Anzahl aus anderen Städten Italiens sowie mehrerer europäischer Länder. In jenen Stunden unmittelbar nach dem Tod des Papstes war das vermutlich ein normales Aufkommen. Sechs Anrufe zwischen zweiundzwanzig und dreiundzwanzig Uhr. Dann nichts, bis zwei Minuten nach eins in der Nacht. Dieser Anruf vom internationalen Flughafen Denver dürfte den Archivar aus dem Schlaf gerissen haben. Valentina wirft einen prüfenden Blick auf Ballestras Wecker. Er ist auf fünf Uhr gestellt. Der alte Herr scheint Frühaufsteher gewesen zu sein, aber nicht unbedingt an Schlaflosigkeit gelitten zu haben.
Sie versucht festzustellen, welche Hinweise Ballestra beim Verlassen seines Zimmers hinterlassen haben könnte. Die Bettdecke ist zurückgeschlagen, der Schlafanzug liegt neben den Pantoffeln am Boden – er dürfte ihn in größter Eile ausgezogen haben, um seine
Weitere Kostenlose Bücher