Das Evangelium nach Satan
ist sie nicht unbeteiligte Zuschauerin, sondern Mitwirkende.
Gemeinsam mit dem Priester geht sie zum Podium und setzt sich auf den alten Sessel, dessen wurmstichiges Gestell unter ihr nachzugeben scheint. Carzo nimmt etwas aus einem kleinen Beutel und zieht eine Spritze mit einer durchsichtigen Flüssigkeit auf.
»Was ist das?«
Er bindet Marias Arm ab und drückt die Luft aus der Spritze.
»Ein Mittel zur Muskelentspannung. Den Schamanen der Yanonámi dient es dazu, Verbindung mit den Geistern des Waldes aufzunehmen. Es wird Ihnen helfen, sich zu entspannen und zugleich die negativen Auswirkungen Ihrer Visionen auf Ihr seelisches Gleichgewicht abpuffern.«
Beim Einstich der Nadel verzieht sie das Gesicht. Die Flüssigkeit, die durch ihre Adern strömt, brennt so sehr, dass sie ihren Weg fast verfolgen zu können glaubt, während sie sich in ihrem Organismus verteilt. Dann lässt das Brennen nach, und ihre Gedanken beginnen dahinzutreiben. Carzos Gesicht scheint ihr mit einem Mal von einem bläulichen Schimmer umgeben zu sein. In ihrem Mund und ihrer Kehle breitet sich ein pelziges Gefühl aus.
Sie fragt: »Und jetzt?«
»Die alte Oberin, die damals mit dem Satansevangelium geflohen ist, hieß Mutter Gabriella. Soweit wir aus den Archiven wissen, hatte sie nach dem Selbstmord von Mutter Mahaud de Blois die Leitung des Klosters übernommen.«
»War das die, die sich von der hohen Mauer gestürzt hat, nachdem sie gelesen hatte, was in dem Evangelium stand?«
»Ja. Man darf als sicher annehmen, dass Mutter Gabriella am Abend, an dem die Seelenräuber das Kloster gestürmt haben, in dem Sessel da gesessen hat.«
»Ich habe sie gesehen.«
»Wie bitte?«
»Gerade vorhin, in meiner Vision. Sie war genau hier.«
»Das wird es uns erleichtern, mit ihr Verbindung aufzunehmen.«
»Mit ihr?«
»Ja, mit ihrem Geist. Oder besser gesagt, mit ihrer Erinnerung.«
»Ich verstehe nicht.«
»Auf der Erde gibt es viele sonderbare Orte, denen sich die Dramen einprägen, die sie miterlebt haben: Spukhäuser, verwunschene Wälder, aber auch Klöster wie dieses hier, in dessen Mauern die Erinnerungen an die von den Menschen längst vergessenen entsetzlichen Ereignisse eingegraben sind.«
»Das Gedächtnis der Steine?«
»So in der Art.«
»Ich dachte, Sie wollten mit dem Inquisitor Landegaard Verbindung aufnehmen?«
»Später. Vorher muss ich wissen, was genau an jenem Tag geschehen ist. Dafür müssen Sie unbedingt daran denken, dass mit Ausnahme Mutter Gabriellas in der Nacht vom 14. Januar 1348 alle Weltfernen Schwestern hier im Kloster am Matterhorn umgekommen sind. Sie dürfen daher auf keinen Fall in den Ablauf der Ereignisse eingreifen, die Sie miterleben werden, sondern müssen sich ausschließlich auf Mutter Gabriella konzentrieren. Wenn Sie auch nur das Geringste verändern, läuft auch sie Gefahr zu sterben. In dem Fall würden Sie mit ihr zusammen in den Tod gehen.«
Maria schweigt.
»Sind Sie bereit?«
Sie nickt. Der Kloß, der ihr in der Kehle sitzt, hindert sie zu sprechen.
»Schließen Sie die Augen. Leeren Sie Ihren Geist vollständig aus. Vertreiben Sie jegliche Angst und jeglichen Zorn daraus.«
Maria achtet aufmerksam auf seine Worte.
»Ab sofort sollen Sie nur noch auf meine Stimme hören. Darüber hinaus ist nichts mehr wichtig. Ausschließlich sie wird Sie durch den Irrgarten Ihrer Vision führen. Je tiefer die Hypnose wird, desto weniger werden Sie meine Stimme zu hören glauben. Trotzdem wird jedes meiner Worte in Ihr Unbewusstes gelangen. Daher ist es äußerst wichtig, dass Sie nicht einschlafen, denn nur meine Stimme, und sonst nichts, hat die Kraft, Sie zurückzuführen, falls unser Experiment fehlschlagen sollte.«
Marias Widerstand gegen die Lähmung, die sie befällt, wird immer schwächer, doch es gelingt ihr, die wenigen Worte herauszubringen, die noch im Vordergrund ihres Denkens kreisen.
»Was muss ich tun, wenn ich in Gefahr bin?«
»Pst. Sie dürfen nicht mehr sprechen. Sollten Sie in Gefahr geraten, ballen Sie einfach die Hände zu Fäusten. Dann hole ich Sie sofort zurück. Jetzt möchte ich, dass Sie Ihre Aufmerksamkeit vollständig auf Mutter Gabriella richten. Sie sitzt genau da, wo Sie jetzt sitzen. Ihre Hände liegen an derselben Stelle wie die Ihren. Sind Sie so weit?«
Der Wind hat aufgefrischt. Carzos Stimme wird schwächer. Maria spürt, wie ihr Unterleib schwer wird, Brüste und Schenkel erschlaffen und die Arme kraftlos herabhängen. Statt ihrer Jeans und ihres
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