Das Evangelium nach Satan
Soutane überzuwerfen und in seine Sandalen zu schlüpfen. Prüfend fährt sie mit der Hand über das Porzellan des Waschbeckens. Keine Spur von Feuchtigkeit. Dasselbe Ergebnis am Wasserhahn und der Zahnbürste, über deren Borsten sie mit dem Daumen fährt. Sie nimmt einen schweren gläsernen Flakon zur Hand und schnuppert daran. Ein leicht nach Ambra duftendes Kölnischwasser. Es ist der gleiche Geruch, den sie beim Betreten des Zimmers wahrgenommen hatte. Also hatte sich Monsignore Ballestra immerhin rasch mit seinem Lieblings-Duftwasser das Gesicht betupft. Dann war er hinausgeeilt, ohne den Flakon zu verschließen.
Auf dem niedrigen Tischchen liegt ein schnurloses Telefon. Sie setzt sich auf die Bettkante, drückt auf die Taste der Wahlwiederholung und sieht die Nummer 789-907. Es ist die letzte auf der Liste, die ihr Pazzi geschickt hat. Diese Verbindung mit einer Nummer im Vatikan wurde um halb sechs Uhr morgens hergestellt, vier Stunden, nachdem Ballestra in den Räumen des Archivs verschwunden war. Sie hört, wie der Ruf durchgeht, dann meldet sich jemand: »Hier Archiv.«
Italienisch mit einem knödeligen Walliser Akzent. Ein Schweizer, also wohl ein Mitglied der Garde. Valentina schaltet das Telefon aus und legt es seufzend auf den Tisch zurück. Es gibt zwei Möglichkeiten: Ballestra ist in sein Zimmer zurückgekehrt, um vor seinem Tod noch einmal zu telefonieren. Wieso hat ihn dann aber niemand lebend aus dem Archiv kommen sehen? Wenn aber nicht, hat jemand anders von seinem Apparat aus angerufen, und zwar jemand, der wusste, dass Ballestra tot war. Beispielsweise sein Mörder.
5
Gerade, als sie daran zweifeln, je das Ende des Gangs zu erreichen, kommen Maria und Carzo endlich an eine schwere Eichentür. Sie führt ins Refektorium des Klosters. Obwohl sie gegen die unaufhörlich mit Krallen und scharfen Zähnen geführten Angriffe ankämpfen müssen, gelingt es ihnen, sich durch die kaum mehr als einen Spaltbreit geöffnete Tür zu zwängen und sie vor den Tausenden von Fledermäusen zuzuschlagen. Rund ein Dutzend dieser Tiere, die sich am Rücken der Flüchtenden festgekrallt hatten, hat es in den Raum geschafft. Zwei von ihnen haben ihre Zähne in Carzos Arme und Kehle geschlagen, und Maria muss sie töten, damit sie loslassen. Die anderen fliegen davon. Sie zielt wie auf dem Schießstand und erledigt sie mit zwei Schüssen. Dann tritt im Refektorium Stille ein.
Während der Priester an einigen der Leuchter Kerzen entzündet, kniet sich Maria auf den Boden und sieht sich gründlich in der Halle um, die aus dem gewachsenen Fels herausgehauen ist. An den vier Reihen schwerer Tische haben sich im Mittelalter die Nonnen versammelt, um schweigend den Linsenbrei zu verzehren, der ihre Alltagskost bildete.
Am hinteren Ende des Raums steht auf einem rot ausgeschlagenen Podium ein alter hölzerner Sessel, dem die Jahrhunderte allem Anschein nach nur wenig hatten anhaben können. Rechts davon erhebt sich im Staub und Rattenkot ein Pult, neben dem ein mit einem Tuch bedeckter Schemel steht. Dort saß gewöhnlich die jeweils für diese Aufgabe ausersehene Nonne, um über das Geklapper der Löffel in den hölzernen Schüsseln hinweg die Lesung des Tages vorzutragen, grauenvolle Episteln und Auszüge aus verfemten Evangelien.
Maria schließt die Augen und spürt, wie die alten Gerüche nach und nach in ihre Nase dringen, die vergessenen Geräusche sich ihren Ohren mitteilen. Carzos Schritte werden immer leiser, je weiter sich ihr Geist entfernt.
Als sie die Augen wieder öffnet, ist er verschwunden. Ein bleiches Licht erfüllt das Refektorium. In der eiskalten Luft hängt ein starker Geruch nach Kerzenwachs und Lampenöl. Sie unterdrückt einen Aufschrei des Erstaunens, als sie sieht, dass die Weltfernen Schwestern um die Tische versammelt sind. Sie hört das Scharren ihrer Holzpantinen am Boden sowie das laute Schmatzen und Schlürfen, mit dem sie ihren Brei essen. Sie sieht zu dem Sessel hin; dort sitzt eine Nonne unbestimmbaren Alters. Sie hat die Augen geschlossen und scheint zu schlafen. Neben dem Pult leiert die Vorleserin ihren Text herunter. Eine der Nonnen knurrt wie ein böses Tier, vermutlich fühlt sie sich durch die Nähe der Mitschwestern bedrängt. Daraufhin geben die anderen mit vollem Mund ein irres Lachen von sich, dem nichts und niemand Einhalt gebieten kann. Es ist ein wildes Gegacker, Gekicher und Gegluckse. Als unvermittelt die Sturmglocke läutet, stockt Maria das Blut in den Adern.
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