Das Evangelium nach Satan
herüber. Das Kloster füllt sich mit Leben. Carzo erstarrt, als er das Flüstern hört, das an die Stelle des bisherigen Schweigens getreten ist, die gedämpften Ausrufe, die Gesänge. Das Geräusch von Füßen auf dem Boden, Glockengeläut und Türenschlagen. Das Kloster beginnt sich zu erinnern. Man könnte meinen, Maria sei in ihrer Trance dabei, den Exorzisten mitsamt den Mauern, den Gerüchen und allem anderen aus der Vergangenheit herbeizutransportieren.
»Maria, hören Sie mich?«
Immer noch der rasche, abgehackte Atem. Immer wieder ein neues Dampfwölkchen aus dem Mund der jungen Frau. Carzo sieht, wie eine Ader auf ihrer Stirn pulst. Sie kämpft gegen etwas.
Die Riemen an ihren Handgelenken knirschen. Er sieht darauf und erstarrt. Blutergüsse bilden sich unter dem Druck ihrer Muskeln gegen das Leder. Er will sie an den Schultern rütteln, doch ihre Gelenke sind derart verhärtet, dass er sie keinen Millimeter bewegen kann.
»Das geht zu weit! Sie müssen zu sich kommen!«
Maria öffnet die Augen. Ihre Pupillen sind stark vergrößert. Ihre Stimme zittert, während sie sagt: »Er kommt. O Herr, er kommt.«
20
»Ich bin Monsignore Riccardo Pietro Maria Ballestra und am 14. August 1932 in der Toskana als Sohn der Carmen Campieri und des Marcello Ballestra zur Welt gekommen. Mein geheimer Name im Orden der Archivare ist Bruder Benedetto da Messina. All diese Angaben mache ich, um von vornherein jeden möglichen Zweifel an meiner Urheberschaft dieser Aufnahme auszuräumen.«
Valentina hält sich das Gerät dicht ans Ohr, um Ballestras Flüstern besser verstehen zu können.
»Heute hat mich um ein Uhr nachts ein Anruf des Exorzisten Pater Alfonso Carzo geweckt. Er befand sich nicht mehr in Amazonien, wohin er entsandt worden war, um Fällen von äußerster Besessenheit nachzugehen. Dort, hat er mir gesagt, habe er in den Resten eines Aztekentempels uralte farbige Reliefs entdeckt, die Szenen aus der Bibel darstellen. Ähnliches hatten schon spanische Konquistadoren aus Mittelamerika berichtet. Sie waren von den Eingeborenen, denen sie begegneten, wie Götter empfangen worden, denn es seien, wie diese sagten, schon vor sehr langer Zeit Menschen von weißer Hautfarbe ins Land gekommen, deren Rückkehr man erwarte. All das stützt die Ergebnisse zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen, denen zufolge christliche Missionare lange vor den Spaniern amerikanischen Boden betreten hatten. Allerdings zeigen die Darstellungen im Dschungel Amazoniens, wie mir Pater Carzo gesagt hat, nicht den uns von der Bibel überlieferten Christus, sondern dessen satanisches Gegenstück, ein wildes Ungeheuer. Dieser Janus, Sohn des Satans, war die Geißel der Olmeken. Ihn sollen jene Vorfahren der Azteken auf der Spitze einer ihrer Pyramiden gekreuzigt haben, was zum Untergang ihrer Kultur führte.«
Valentina bemüht sich um eine größere Lautstärke, denn die Stimme des Archivars klingt beim Rascheln der Dokumente, in denen er während des Sprechens blättert, noch leiser als zuvor.
»Kurz nach Pater Carzos Anruf habe ich in einem Untergeschoss der Basilika die legendäre Halle der Siegel entdeckt, die so viele meiner Vorgänger vergeblich gesucht hatten, und dort befinde ich mich jetzt. Hier lagert die gesamte Geheimkorrespondenz, welche die Päpste durch die Jahrhunderte über das System des päpstlichen Siegels miteinander führten. Nach Bruch der Siegel bin ich einer äußerst umfangreichen internen Untersuchung auf die Spur gekommen, deren Ziel es war, dem Schwarzen Rauch des Satans das Handwerk zu legen. Dabei handelt es sich um eine Verschwörung abtrünniger Kardinäle, die im Laufe der Zeit im Vatikan eine immer größere Machtfülle an sich gebracht haben. Seit über sechshundert Jahren bemüht sich diese Bruderschaft, eine als Satansevangelium bezeichnete Handschrift sowie einen menschlichen Schädel aufzufinden. Sie behauptet, die an diesem Schädel erkennbaren Verletzungen lieferten den Beweis dafür, dass die Evangelisten gelogen haben, und auch das Satansevangelium soll den Beweis für eine Lüge liefern, die angeblich so ungeheuerlich ist, dass ihre Aufdeckung das Ende unserer Kirche bedeuten würde. Soweit ich feststellen konnte, hat der Schwarze Rauch bei seinem Versuch, dieser beiden Dinge habhaft zu werden, immer wieder Intrigen geschmiedet und ist auch vor Morden nicht zurückgeschreckt.«
Valentina schließt die Augen. Was sie da hört, übertrifft bei Weitem alles, was sie sich vorgestellt
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